Ines oeffnet die Tuer
Uhr auf der Kommode. Das Zifferblatt glühte dunkelrot. Die Zeiger standen auf fast drei Uhr.
Fünfzehn Stunden im Refugium â¦
Wieder stieà die Uhr ihr klägliches Jammern aus. Zugleich hörte Ines ein leises Knirschen. Es drang zwischen den Dielen unter ihren FüÃen hervor, und an einer Stelle wölbte sich der Teppich. Die Dielen hoben sich ein Stück, knarzten und knirschten wieder, ja, Ines glaubte das Holz sogar splittern zu hören. Ihr schauderte.
»Ich kann nicht länger bleiben«, murmelte sie. »AuÃerdem muss ich ja nicht gleich alle Regeln an einem Tag brechen.«
Sie stellte die Bronzelampe beiseite und ging zur Tür.
Die Klinke fühlte sich seltsam an, als Ines die Hand darauf legte. Fast so, als wäre die Frau mit dem wehenden Gewand lebendig und zappelte zwischen ihren Fingern wie ein gefangener Vogel. Ines musste sich überwinden, sie herunterzudrücken.
Die Tür lieà sich nur widerwillig öffnen. Unendlich langsam schwang sie in den Raum, als bewegte sie sich durch zähen Honig.
Durch den Türspalt erkannte sie ihr eigenes, dunkles Zimmer.
Mal sehen, wie viel Zeit diesmal in der echten Welt vergangen ist, dachte Ines. Immerhin scheint es noch Nacht zu sein.
Sie ging hinaus.
Der sonst so harte Teppichboden ihres Zimmers fühlte sich eigenartig unter den FüÃen an. Viel zu weich ⦠es war, als sänke Ines mit jedem Schritt in Watte ein. Es war anstrengend, vorwärts zu kommen. So, als würde sie in Zeitlupe gehen.
Sie hörte hinter sich die Tür des Refugiums zuschlagen â und aus einer anderen Richtung drangen Stimmen.
Ihre Eltern! Sie unterhielten sich noch immer im Wohnzimmer.
Ines blieb stehen und lauschte.
»Es ist eine Frechheit«, hörte sie Veiths Stimme. »Die Suche einfach einzustellen! Man muss sie doch finden. Vielleicht ist sie in Gefahr.«
»Deine Mutter? Das glaube ich nicht«, antwortete Carmen. »Was erwartest du noch von der Polizei? Sie haben überall nach Agnes gesucht, dreimal Taucher auf den Seegrund geschickt â¦Â«
Ines hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht vor Schreck aufzuschreien.
Es war dasselbe Gespräch, das sie gehört hatte, ehe sie in das Refugium gegangen war.
Die Zeit war zurückgesprungen!
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25.
In dieser Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. AuÃerdem hatte Ines im Refugium schon genug davon bekommen, zehn Stunden lang, fest wie ein Stein ⦠sie konnte es noch immer kaum fassen. Das war nicht normal!
Aber was war im Augenblick schon normal? Wenn sie die Geschehnisse der letzten Tage Revue passieren lieÃ, wurde ihr ganz anders zumute.
Agnes verschwindet, ohne zu sagen wohin. Karol interessiert sich für mich. Ein Mann klopft ans Fenster des Refugiums. Die Dielen unter dem Teppich wölben sich. Und die Zeit spielt verrückt ⦠Mir wird das alles zu viel. Ich bin erst dreizehn, verdammt!
Von einer Sache war sie inzwischen überzeugt: dass Agnes ihr das Refugium niemals hätte übergeben sollen. Es barg Geheimnisse, für die sich Ines zu jung fühlte. Sie konnte ja nicht einmal mit jemandem darüber reden, seit Agnes verschwunden war.
Oder sollte sie es einfach tun? Sollte sie Sonja einweihen? Oder Karol?
Ich werde verrückt, wenn ich mit keinem spreche, dachte Ines.
Immerhin gab es nun diesen Mann aus dem Nebel. Zwar wirkte er leicht verwirrt und schien nicht das allerbeste Gedächtnis zu haben, aber vielleicht konnte Ines ihm ein paar Dinge entlocken, die Agnes verschwiegen hatte.
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Zunächst aber begann die neue Woche. Wie gerädert stand Ines am Montagmorgen auf. Die Zeit hatte sich normalisiert. Kein WattefuÃboden, auf dem man nicht vorwärts kam, keine Gespräche, die sich wiederholten â¦
Ines frühstückte und nahm den Bus zur Schule. Trotz des langen Schlafs im Refugium war sie hundemüde und gähnte häufig während der Fahrt.
Im Klassenzimmer wartete Karol auf sie. Er lächelte, als sie hereinkam.
»Morgen, Ines.«
Ines freute sich sehr, ihn zu sehen. Aber wie sollte sie sich jetzt verhalten? Konnte sie ihn vor den anderen Schülern umarmen? Nein, auf keinen Fall.
»Ich fand es gestern sehr nett mit dir«, sagte Karol leise, sodass kein anderer ihn hören konnte. »Es hat gutgetan, mit dir zu reden.«
Ines spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
»Ja, finde ich auch.«
Für einen Augenblick sahen sie sich
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