INFAM - Die Nacht hat tausend Augen (German Edition)
wahrscheinlich im Vergleich zu einem abgetrennten Finger in etwa so intensiv, wie ein laues Sommerlüftchen in Relation zu einem Hurrikane.
Ich hab ja bereits die halbe Ohrmuschel verloren, also kann ich mir schon ausmalen was mich erwartet. Nach dem ersten Finger bin ich hoffentlich bewusstlos und kriege nichts mehr mit.
Das wäre der günstigste Fall. Der weniger günstige und wohl wahrscheinlichere ist, dass du alles bei vollem Bewusstsein miterleben musst, erwiderte ihre innere Stimme.
„Kommen wir zur ersten Frage“, sagte Denise. „Tausende Menschen auf der ganzen Welt beobachten unsere fantastische Show hier gerade. Sie wurden aufgefordert darauf zu wetten, wie viele Fingerhäppchen unser Sonnenschein da drüben gleich verspeisen darf. Was denkst du, auf welche Zahl haben die meisten Leute gewettet?“
Wie ein Stromschlag fuhr ein gewaltiger Zorn durch Sarahs ganzen Körper und ihr Kopf ruckte zur Seite. Sie sah Denise direkt in die Augen. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie Denise ohne zu zögern den Kopf abgerissen. Irgendetwas – vielleicht der Hass in Sarahs Blick – ließ so etwas wie Erschrecken in Denises Augen aufblitzen, die sich für einen kurzen Moment weiteten. Sie hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle.
„Keine Antwort ist die falsche Antwort“, sagte sie kalt.
„Vier“, zischte Sarah, während sie Denise mit ihrem Blick in zwei Hälften zersägte.
Denise schmunzelte ungerührt und richtete ihre Augen zur Decke. „Richard Baby, wie lautet die richtige Antwort?“
Von irgendwo an der Decke erklang eine mechanische Stimme: „Vier.“
Sarah verspürte einen Hauch von Erleichterung und sie gestattete sich ein kurzes Durchatmen. Die Miene von Denise verriet Enttäuschung. Sie hätte wahrscheinlich nur zu gerne angefangen, Sarah zu verstümmeln.
„Heute ist anscheinend dein Glückstag“, sagte sie zerknirscht und setzte den Bolzenschneider an Sarahs Zeigefinger an. „Den Daumen darfst du also behalten. Kommen wir zur nächsten Frage ...“
„Der Daumen schüttelt die Pflaumen, der hebt sie auf, der trägt sie nach Haus, und Sid isst sie alle auf!“, unterbrach Sid sie mit fröhlicher Stimme.
„Ruhe!“, fuhr Denise ihn an. „Wie viele Menschen hat Sid getötet, bevor er erstmals in die Psychiatrie kam?“
Der Anflug von Erleichterung in Sarahs Innerem verflüchtigte sich und wich Panik und der unheilvollen Vorahnung, dass sie diesmal kein Glück haben würde.
Woher soll ich denn das wissen?
Denise betrachtete sie mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen. Sie war sich anscheinend sicher, dass sie jetzt endlich mit der Folter anfangen konnte.
„Keinen.“ Sarah blickte Denise in die Augen und biss fest die Zähne zusammen. Denise schaute sie ungläubig an und musste sich offenbar sehr bemühen, nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie zwang sich zu einem gekünstelten Lächeln und drückte den Bolzenschneider zusammen, allerdings nur leicht. Sarah schrie, aber eher weil sie dachte, sie würde den Finger verlieren als vor Schmerz. Denise nahm das Werkzeug runter und stemmte die Hände in die Hüften.
„Wow, du liegst schon wieder richtig. Bevor er erstmals dorthin kam, hat er noch niemanden umgebracht. Zumindest geht man davon aus, da die ersten vier Jahre ja in seinem Lebenslauf fehlen. Er hat lediglich einem Spielkameraden – einen kleinen, schwarzen Jungen mit Kräusellocken, der Adam hieß – im Sandkasten plötzlich in die Nase gebissen und solange mit den Zähnen daran gerissen, bis sie nahezu ganz abgetrennt war. Der kleine Adam hat versucht sich mit einem Kurzspaten aus Plastik zu verteidigen und damit auf Sid eingeschlagen, aber dieser ließ nicht von ihm ab. Ein paar Erwachsene hatten den Vorfall beobachtet, kamen aber zu spät um Schlimmeres zu verhindern. Daraufhin wurde Sid zum ersten Mal in die Klapsmühle gesteckt.“
Unsanft steckte Denise Sarahs Mittelfinger zwischen die Schneiden ihres Werkzeugs und drückte gleich so fest zu, dass es Sarah weh tat. „Wir kommen zur dritten Frage. Wie alt ist Fiene, die kleine Plüsch-Robbe von Sid? 10, 25, 30 oder 35 Jahre?“
Sarah versuchte sich zu konzentrieren und logisch über die Frage nachzudenken, aber ihre Gedanken schwirrten wild durcheinander. Einem Teil von ihr widerstrebte es, überhaupt bei diesem perversen Ratespiel mitzumachen. Vor allem würde es sowieso nichts daran ändern, dass man sie hiernach umbringen würde, da war Sarah sich sicher. Die Sekunden verstrichen und sie ging davon
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