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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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Flurs stellen, von wo aus sie bestimmt nicht wieder den Weg zurück in mein Zimmer finden würde, als das Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab. »Clevenger.«
    »Ich bin’s, Julia.«
    »Wo sind Sie?«, fragte ich.
    »Unten.«
    Ich wusste nicht genau, wie ich reagieren sollte. »Im Foyer …«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. Schon der Gedanke daran, dass sie – ganz allein – drei Stockwerke von mir entfernt war, ließ mich fantasieren, wie es wäre, sie in meinen Armen zu halten, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dabei beobachtet zu werden.
    »Ich brauche die Nähe eines Menschen, dem ich vertrauen kann«, sagte sie. »Nur für ein paar Minuten. Ich …« Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich möchte Ihnen erzählen, wie es vorhin in der Kirche für mich war … was ich wirklich empfunden habe.«
    Das Klügste wäre, zu ihr hinunter ins Foyer zu gehen oder mich mit ihr auf einen Kaffee im Brant Point Grill zu treffen. Doch zu wissen, was man tun müsste, und genauso zu handeln, sind zwei verschiedene Dinge. »Ich bin in Zimmer 307«, sagte ich.
    Als es an meiner Tür klopfte, schwor ich mir, die Sache nicht zu weit gehen zu lassen und eine gewisse therapeutische Distanz zwischen uns zu wahren. Ich öffnete die Tür. Julia stand in ihrem schwarzen Kleid mit vom Regen nassem Haar vor mir. Sie hatte geweint, dennoch strahlten ihre Augen. Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Sie ergriff sie und kam in meine Arme. Ich stieß die Tür zu und hielt Julia, während sie weinte. Ihr zartes Schulterblatt unter meiner Handfläche, ihre Brust, die sich an meinem Körper hob und senkte, eine Träne, die von ihrer Wange fiel und an meinem Hals hinablief – all das berauschte mich. Ebenso wie die Parallelen in unser beider Leben: ihr brutaler Ehemann, mein brutaler Vater, ihr Bedürfnis, einer zerstörerischen Ehe zu entfliehen, meine Kindheitsfantasien darüber, meine Mutter zu retten.
    Julia hob den Kopf und wandte mir mit geschlossenen Augen ihr Gesicht zu. Und ich tat, was vielleicht vergeben, aber nie entschuldigt werden kann. Ich hob meine Hand an ihre Wange und küsste sie, zuerst ganz behutsam, dann leidenschaftlicher. Als unsere Lippen verschmolzen, war keine Rede mehr davon, Grenzen zu überschreiten, denn sie lösten sich auf, existierten nicht länger. Und ich fühlte, dass auch unser beider Zukunft auf geheimnisvolle Weise und unwiederbringlich eins geworden war. Mein Unterbewusstsein sagte mir, dass dies die schlimmsten Umstände sein mochten, um einander zu finden, doch es waren unausweichlich und unwiderruflich
unsere
Umstände. Die Regeln von Sitte und Anstand, die die große Masse der Beziehungen regieren, würden sich beugen müssen. Wir waren füreinander bestimmt.
    Ich habe in meinem Leben viele Frauen geküsst, doch keine von ihnen hatte in mir die gleichen Gefühle geweckt wie Julia. Sie ließ ihre Finger über meinen Nacken gleiten, zog mich zu sich heran, erwiderte das leidenschaftliche Spiel meiner Zunge, dann gab sie mich wieder frei und hauchte mir einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, bevor sie meine Unterlippe mit ihren Zähnen festhielt und sanft daran zog, als wollte sie mich verschlingen. Ihre Lippen wanderten zu meiner Wange, und ich hörte ihren erregten Atem lauter als meinen eigenen, fühlte ihre warme Zunge in meinem Ohr, bohrend, gierig, ein Vorgeschmack auf all die wunderbaren Variationen, in denen sich unsere Körper und Seelen vereinigen konnten.
    Erst nachdem wir uns lange geküsst hatten, fand ich die Kraft, mich von ihr zu lösen. »Du wolltest … reden«, sagte ich.
    Sie atmete tief durch, dann öffnete sie langsam die Augen und nickte. Ich nahm sie bei der Hand und führte sie zur Couch, die Ausblick über den Hafen bot. Die Aluminiummasten und goldenen Vordersteven von über hundert Segelbooten reflektierten den Mondschein und wiegten sich wie glitzernde Ähren aus Silber und Gold auf einem blauen Feld. »Erzähl mir, wie du dich heute in der Kirche gefühlt hast«, sagte ich sanft.
    Sie blickte auf unsere ineinander verschlungenen Finger, ehe sie ihre freie Hand über sie legte und mich wieder ansah. »Als würde ich ein Stück von mir selbst begraben«, sagte sie. »Die ganze Zeit über habe ich mir gewünscht, ich wäre an ihrer Stelle gestorben. Seit dem Tag ihrer Geburt hatte ich so ein Gefühl, was Brooke anging – dass sie etwas ganz Besonderes wäre.« Tränen liefen über ihr Gesicht. »Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich fühlte mich

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