Infam
ihr so viel näher als den Jungs. Sogar näher, als ich mich Tess fühle.«
Julias Erinnerung an ihre erste Reaktion auf Brooke war Lichtjahre entfernt von der Entfremdung, die Claire Buckley beschrieben hatte. Ein Teil von mir wollte diesen Widerspruch mit ein paar Fragen aufklären, doch es schien nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu stellen – teils, weil ich keine Antworten hören wollte, die meine Zuneigung für Julia mit neuerlichen Zweifeln trüben könnten. Ich wischte die Tränen von ihrer Wange. »Welche anderen Gefühle hattest du heute?«, fragte ich schlicht.
»Wut. Den Wunsch, jemanden dafür zahlen zu lassen.« Sie räusperte sich. »Vor allem aber Schuldgefühle.«
»Wieso das?«
Sie zögerte.
»Du brauchst es mir nicht zu erzählen«, erklärte ich. »Die Entscheidung liegt bei dir.«
Sie drückte meine Hand. »Ich hätte Billy niemals in die Nähe der Mädchen lassen dürfen. Das Risiko war einfach zu groß.«
Julias Verdacht hatte sich eindeutig nicht von Billy auf ihren Mann verlagert. »Ich verstehe«, sagte ich. »Was hättest du deiner Meinung nach tun sollen?«
»Ich hätte die Adoption niemals zulassen dürfen. Wir waren nicht darauf vorbereitet, für einen Jungen mit Billys Problemen zu sorgen. Und Darwin hatte nicht das geringste Interesse daran, ihm ein Vater zu sein.«
»Aber Darwin hat darauf bestanden«, sagte ich.
»Dann hätte ich ihn verlassen müssen«, erwiderte sie. »Aus diesem Grund und aus vielen anderen.«
Ich sah eine erneute Gelegenheit, für Tess’ Sicherheit zu plädieren. »Bestehen diese anderen Gründe denn jetzt nicht mehr?«, fragte ich sanft. »Billy ist nicht mehr im Haus, aber all die anderen Spannungen belasten Tess – und Garret – weiterhin.«
»Du meinst Darwins Wutausbrüche«, sagte sie. »Seine Herrschsucht. Seine Brutalität.«
»Ja.«
»Ich habe mit meiner Mutter gesprochen«, erklärte sie. »Es besteht die Möglichkeit, dass ich sie mit den Kindern zurück nach Martha’s Vineyard begleite.«
»Gut«, sagte ich.
»Keine Ahnung, wie Darwin darauf reagieren wird.«
»Ich denke, Chief Anderson würde für Polizeischutz sorgen«, sagte ich. »Zumindest eine Zeit lang.«
»Natürlich.« Sie schien nicht überzeugt.
»Und ich wäre auch da«, sagte ich, »wenn du mich brauchst.«
Sie drückte meine Hand fester, dann hob sie sie an ihre Lippen und küsste sie. »Wie kann ich mich dir in so kurzer Zeit so nahe fühlen?«, fragte sie.
»Ich habe mir dieselbe Frage gestellt«, gestand ich.
»Und hast du eine Antwort darauf gefunden?«
»Einfach unverschämtes Glück«, sagte ich.
Sie schloss die Augen und schob meine Hand sanft in den Ausschnitt ihres Kleids, sodass meine Finger wie von selbst unter den Spitzenrand ihres Hemdchens und auf ihre Brüste glitten. Ich spürte ihre Gänsehaut, als meine Finger weiterwanderten. Als sie ihre Brustwarze erreichten, stieß Julia ein genüssliches Seufzen aus, so als wäre sie gerade erwacht und räkelte sich in einem warmen Federbett.
Ich wollte ihren ganzen Körper berühren. Ich legte eine Hand auf ihr Knie, knapp über dem Saum ihres Kleids, und die andere in ihren Nacken. Sanft zog ich sie an mich, um den Reißverschluss ihres Kleids öffnen zu können, während sie ihren Kopf an meine Schultern legte, wartend und bereit. Doch ich durfte sie jetzt nicht ausziehen. Ich ließ meine Finger auf dem Stoff an ihrem Rückgrat hinuntergleiten, dann küsste ich ihre Wange und lehnte mich auf der Couch zurück. »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt«, sagte ich. »Du kommst geradewegs aus der Kirche hierher, noch völlig überwältigt von deinen Gefühlen. Wie sollen wir uns also sicher sein, ob es wirklich etwas bedeutet.«
Sie nickte fast schüchtern. »Es ist sowieso schon spät. Ich sollte lieber nach Hause fahren.«
Wir standen auf. Es folgte ein etwas unbehaglicher Moment, während wir uns beide damit abfinden mussten, dass wir nicht miteinander schlafen würden.
»Bleibst du nur über Nacht hier oder länger?«, fragte Julia.
»Ich fahre morgen früh wieder zurück, aber nur für einen Tag. Dann komme ich wieder.«
»Wir könnten uns Freitagabend treffen«, schlug sie vor.
Es war wie eine Aufforderung, jegliche Vorsicht über Bord zu werfen. »Die Tatsache, dass ich beschattet werde, schreckt dich nicht ab?«, fragte ich.
»Das hat sie heute Abend auch nicht getan«, erwiderte sie. »Nichts schreckt mich mehr ab als die Vorstellung, dich nie wieder zu sehen.«
»Paranoia«, bemerkte
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