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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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hatte. Wenn man noch hinzunahm, dass ich mich ein wenig deklassiert von Julias Reichtum fühlte und beinahe überwältigt davon war, dass mir eine Frau, die jeden Mann ihrer Wahl haben könnte, ihre Gunst schenkte, wurde mein inneres Gleichgewicht auf eine wirklich harte Probe gestellt.
    »Übernachten Sie auf der Insel?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete ich.
    »Wo?«
    Ich spürte, wie ich meinen Halt verlor. »Im Breakers«, sagte ich. Ihre Hand loszulassen stellte einen Akt schierer Willenskraft dar, doch ich hatte das Gefühl, wir würden Aufsehen erregen, wenn wir noch länger so innig beieinander standen. Instinktiv wanderte mein Blick zu Garret, und ich sah, dass er die gefühlvolle Szene zwischen seiner Mutter und mir bereits bemerkt hatte. Er musterte mich voller Verwirrung und Wut. »Ich hoffe, ich sehe Sie bald«, sagte ich zu Julia, dann wandte ich mich um und ging zum hinteren Ende der Kirche.
    Kurz vor dem Ausgang packte mich jemand von hinten am Arm. Ich wirbelte herum und fand mich Auge in Auge Darwin Bishop gegenüber, dessen Gesichtsausdruck gezwungen nachsichtig war. »Ein Teil von mir bewundert Ihre Unverfrorenheit«, sagte er, ohne meinen Arm loszulassen.
    Ich war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, ihm mein Beileid auszusprechen, und dem, ihm die Hand zu brechen. »Ich glaube nicht, dass das hier der richtige Ort für eine Unterhaltung ist«, sagte ich.
    »Es ist nicht der Ort, den ich mir ausgesucht hätte, insbesondere nicht dafür, meiner Frau Avancen zu machen«, entgegnete Bishop.
    »Das war nicht …«, setzte ich an.
    Er ließ meinen Arm los. »Sie haben sich hoffnungslos übernommen«, erklärte er in einem fast väterlichen Tonfall. »Sie verrennen sich da in etwas.«
    »Danke für den Rat«, sagte ich nur und wandte mich zum Gehen, doch er packte mich abermals am Arm. Ich drehte mich wieder zu ihm um.
    »Wissen Sie noch, dass Sie gesagt haben, Sie hätten eine Gabe?«, meinte Bishop. »Sie sind ein Bohrer. Nicht mehr, nicht weniger.«
    »Stimmt, das habe ich gesagt.«
    »Ich habe darüber nachgedacht, und mir ist klar geworden, dass ich selbst auch nur eine einzige wirkliche Gabe besitze.«
    »Und die wäre?«, sagte ich.
    »Ich kann Sieger und Verlierer erkennen. In allem. Egal, ob bei Aktien, Unternehmen oder Ideen. Es ist wie ein sechster Sinn.«
    Ich dachte an Bishops Einstieg bei Acribat Software, deren Aktienpreis innerhalb eines Jahres um fünfundvierzig Prozent gefallen war. Doch diese Tatsache war ein kleiner Ausrutscher; sein Milliarden-Dollar-Vermögen zeigte deutlich, dass er Dinge erkannte, die andere übersahen – an der Börse und vielleicht auch sonst. »Das ist eine nützliche Gabe«, sagte ich.
    »Ich vertraue darauf«, erwiderte er. »Und mein sechster Sinn sagt mir, dass Sie kurz davor stehen, alles zu verlieren.« Er lächelte. »Ich kann es förmlich riechen.« Er drehte sich um und ging davon.
    Ich beobachtete, wie er wieder seinen Platz neben dem Altar einnahm. Mein Puls raste, und die Muskeln in meinem rechten Arm waren verkrampft, da ich mühsam den rechten Haken zurückgehalten hatte, den ich ihm am liebsten verpasst hätte. Doch rückblickend betrachtet, beunruhigte mich wahrscheinlich am meisten die Gewissheit, dass er Recht hatte, zumindest in einer Hinsicht: Jedem anderen an meiner Stelle hätte ich dringend geraten, von der Grenze zurückzuweichen, die zu überschreiten ich im Begriff stand.

11
    Um 21 Uhr 40 kehrte ich in mein Zimmer im Breakers zurück. Zum Abendessen hatte ich mir eine Pizza mit Shrimps und Rucola – auf Nantucket war eben alles etwas edler – zum Mitnehmen besorgt und sie auf der Rückfahrt zum Hotel gegessen. Der Abend war windig und regnerisch, was mir, in Kombination mit der vorgerückten Stunde, eine willkommene Ausrede lieferte, die Nacht nicht in North Andersons Haus verbringen zu müssen. Ich rief ihn an und nahm die üblichen freundschaftlichen Ratschläge entgegen, auf der Hut zu sein. Tür verriegeln, keine unangemeldeten mitternächtlichen Klempner-Besuche und so weiter. Ich versicherte ihm, ich würde auf mich aufpassen, die Insel am Morgen verlassen und mindestens einen Tag lang nicht zurückkommen. Ich hatte in Boston einige Dinge zu erledigen, unter anderem einen weiteren Besuch bei Lilly im Mass General.
    Die Hotelführung hatte die Flasche Wein wieder in mein Zimmer zurückgebracht und auf den Nachttisch gestellt. Ich schmunzelte ob der Beharrlichkeit, nahm die Flasche und wollte sie gerade ans Ende des

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