Infam
ich. »Eine Angst, die keinerlei Basis in der Realität hat.« Ich lächelte. »So etwas behandle ich ständig.«
Donnerstag, 27. Juni 2002
Kurz nach fünf wachte ich mit pochendem Herzen auf. Ich knipste die Nachttischlampe an und ließ meinen Blick durchs Zimmer schweifen, auf der Suche nach irgendetwas, das nicht so war, wie es sein sollte, doch die elegante Einrichtung meines Zimmers und der friedliche Hafen draußen waren unverändert. Ich stand auf und ging zu der Schiebetür, die auf die kleine Holzterrasse hinausführte. Die Segelboote schwankten noch immer in einer sanften Brise. Ich trat nach draußen und atmete tief die Meeresluft ein. Es wurde bereits langsam warm. Die Stille war so deutlich zu spüren, dass sie mich nervös machte, und ich fragte mich, ob es tatsächlich die Stille war, die auf mir lastete. Vielleicht fehlte mir das dumpfe Dröhnen der Schlepper und Lastkähne auf dem Mystic River in Chelsea, der Geruch von überhitztem Petroleum, die glühwürmchengleichen Scheinwerfer der vereinzelten frühmorgendlichen Pendler auf der Tobin Bridge. Trotzdem verwarf ich diese einfache Antwort, ging wieder hinein und wählte, mit meinen Gedanken noch immer in Chelsea, meine Telefonnummer zu Hause, um meinen Anrufbeantworter abzuhören. Gerade mal einundvierzig Minuten zuvor war eine Nachricht hinterlassen worden. Sie war von Billy. Mein Herz schlug noch schneller.
»Was ich nicht verstehe«, sagte er, »ist, warum sie nie das Badezimmerfenster im ersten Stock verriegeln.« Er sprach abgehackt, was einem Psychiater üblicherweise eine manische Phase anzeigte. »Sie verriegeln es noch nicht einmal, wenn wir die Insel verlassen und nach Manhattan fahren – was, genau genommen, ebenfalls eine Insel ist, auch wenn ich das manchmal vergesse. Ich meine, das ist so, als würden sie denken, dass kein Einbrecher das Fenster bemerkt, weil es eine Milchglasscheibe hat, und das ist einfach … dumm. Es sei denn, sie denken, niemand würde es sehen, weil es hinter der Eiche ist, aber das macht es sogar noch leichter, weil man daran hochklettern kann. Denn niemand kann einen sehen, wenn man erst mal oben zwischen den Ästen ist. Und Darwins Range-Rover-Roboter sind ja auch nicht gerade der Secret Service.« Er lachte, doch es war ein kurzes, verkrampftes Lachen, als wäre er high oder sehr verängstigt oder manisch. »Jedenfalls hat sich mein kleines Geldproblem für den Augenblick erst mal erledigt. Ich muss Sie nicht mehr bemühen.« Er lachte abermals. Einige Sekunden verstrichen. »Ich schätze, Sie haben mir in der Klinik geglaubt. Deshalb rufe ich an. Ich wollte Ihnen sagen, dass ich Ihnen auch glaube, was Sie gesagt haben. Ich denke nicht, dass ich je irgendjemandem etwas antun wollte, außer meinem Vater.« Er legte auf.
Ich tigerte im Zimmer auf und ab und fuhr mir wieder und wieder mit der Hand über meinen rasierten Kopf, eine nervöse Angewohnheit, die nur auftritt, wenn ich ahne, dass eine Sache völlig schief gelaufen ist. Billy war auf der Insel – oder war es zumindest gewesen. Und es war ihm gelungen, sich ins Bishop-Haus einzuschleichen und etwas Wertvolles zu stehlen, sofern er nicht bluffte. Ich dachte an unsere Unterhaltung im Payne Whitney zurück, als ich Billy nach einem potenziellen Motiv für den Mord an Brooke gefragt hatte. Der Gedanke daran jagte mir einen kalten Schauder über den Rücken. Denn Billy hatte Recht: Ich hatte behauptet, seine Gewalttätigkeit hätte sich immer darauf gerichtet, seinem Vater etwas wegzunehmen. Ich betete, dass es dieses Mal eine Armbanduhr, ein Ring oder eine Geldkassette gewesen war und nicht die kleine Tess.
Ich duschte und zog eine frische Jeans an, dann rief ich North Anderson zu Hause an. Es war erst zwanzig nach fünf, doch ich musste ihn wissen lassen, dass Billy in der Nähe war – oder gewesen war – und dass er sich offenbar Zugang zur Bishop-Villa verschafft hatte.
Tina meldete sich nach dem sechsten oder siebten Klingeln. »Hallo?« Ihre Stimme klang verschlafen.
»Tina, tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe. Frank Clevenger hier.«
Sie übersprang die Höflichkeitsfloskeln. »Hat North dich nicht angerufen?«, fragte sie.
»Nein.« Ich griff nach meinem Handy auf der Kommode und sah auf die Anzeige.
Kein Empfang.
»Wollte er etwas von mir?« Ich sah zur Decke und verfluchte die Schicht aus Stahl oder Beton, die das Signal abschirmte.
»Er ist vor etwa einer Stunde in die Notaufnahme gerufen worden. Mit Tess Bishop stimmt etwas
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