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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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sackte in meinen Armen zusammen. »Nein!«, flehte sie. »Frank, bitte hilf.«
    Ich setzte Julia sanft auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch der Stationssekretärin, von dem aus Tess’ Zimmer nicht zu sehen war, und winkte eine der Schwestern heran. »Bleib hier«, befahl ich Julia, als die Schwester kam. »Ich finde heraus, was los ist.«
    Ich ging zu den fünf oder sechs Gestalten, die sich um Tess drängten. Sie war intubiert worden, und eine der Schwestern pumpte mit einem Ambubeutel Luft in ihre Lungen. Karlstein wirkte wie ein General auf dem Schlachtfeld, eine hoch aufragende Gestalt inmitten eines Gewirrs aus hängenden Infusionsbeuteln und -flaschen und Gummischläuchen. Er hielt noch immer die Elektroden des Kardioverters in den Händen und sah zu mir herüber. »Wir haben einen Puls«, verkündete er. »Vielleicht haben wir Glück.«
    Mehrere Mitglieder des Teams nickten bekräftigend, angespornt von diesem winzigen Funken Hoffnung. Im Gegensatz zu Karlstein, der noch immer taufrisch aussah, waren sie schweißnass – entweder von ihren hektischen Bemühungen oder der Tatsache, dass das Unabwendbare so nahe gewesen war.
    »Geben Sie jetzt das Tocainid zu«, sagte Karlstein.
    Ich bemerkte, dass auf dem Nachttisch ein vollständiges Instrumententablett parat stand. Mir war klar, was das bedeutete: Karlstein war darauf gefasst gewesen, Tess’ Brust zu öffnen und ihr Herz von Hand zu massieren. Bewunderung für ihn wallte in mir hoch.
    »Dann wollen wir mal sehen, ob sie selbstständig atmen kann«, sagte er.
    Die Schwester am Kopfende des Bettes löste den Pflasterstreifen, mit dem der Beatmungsschlauch an Tess’ Lippen befestigt war, und zog den Schlauch vorsichtig aus ihrer Kehle. Tess hustete, zuerst schwach, dann heftiger. Dann begann sie zu weinen.
    Erleichterung spiegelte sich auf den Gesichtern der Männer und Frauen wider, die – zumindest für den Augenblick – dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatten.
    »Gute Arbeit«, lobte Karlstein. »Lasst uns beim Chinesen etwas zu essen bestellen. Ich zahle. Aber ich will einen Berg von diesen Krupuk-Dingern. Frittiert, nicht gedämpft.« Er verließ das Zimmer und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging zu Julia hinüber, die mit ängstlich aufgerissenen Augen noch immer an der Stelle stand, wo ich sie zurückgelassen hatte. »Ihr Herz schlägt, und sie atmet«, berichtete Karlstein.
    Julia traten abermals Tränen in die Augen. »Vielen, vielen Dank«, presste sie hervor. Sie lehnte sich in einer Weise gegen mich, die geradezu dazu einlud, meinen Arm um sie zu legen – etwas, das ich von Herzen tun wollte und auch getan hätte, wenn wir irgendwo anders gewesen wären. Als ich keine Anstalten machte, sie zu umarmen, richtete sie sich wieder auf.
    »Wir werden Tess ab sofort nicht mehr aus den Augen lassen«, versicherte Karlstein. »Ich rate Ihnen, dass Sie sich, sagen wir mal, fünf Minuten zu ihr setzen und dann irgendwohin gehen und sich ausruhen. Gegenüber vom Krankenhaus gibt es ein ganz annehmbares Hotel. Nehmen Sie sich ein Zimmer. Machen Sie ein Nickerchen. Tess wird hier sein, wenn Sie zurückkommen.«
    »Ich gehe hier nicht weg«, verkündete Julia und sah mich flehend an.
    Ich sah, wie sich Karlsteins linkes Auge zur Hälfte schloss, ein Zeichen, dass ihn etwas beschäftigte. »Warum lässt du mich nicht kurz mit Dr. Karlstein reden?«, sagte ich zu Julia.
    Sie atmete tief durch und wischte sich die Tränen ab. »Ich komme schon zurecht«, sagte sie. »Ich werde niemandem im Weg sein. Das verspreche ich.«
    Ich nickte. »Ich bin gleich wieder bei dir.« Ich wandte mich um und ging mit Karlstein im Schlepptau auf eine Ecke der Intensivstation zu.
    »Das war wirklich knapp«, sagte ich und deutete mit einem Nicken auf Tess’ Zimmer.
    »Ich werde einen der Kardiologie-Jungs holen und ihn einen provisorischen Schrittmacher einsetzen lassen«, meinte er. »Mir gefällt nicht, wie sie uns so urplötzlich abgegangen ist. Ventrikuläre Tachykardie, ohne jede Vorwarnung.«
    »Wie schätzt du ihre Chancen ein?«
    »Unmöglich, das zu sagen«, antwortete er. »Wenn wir sie hier wieder auf die Beine bringen und nach Hause schicken können, dann besteht noch immer für ein Jahr oder noch länger ein Risiko.«
    »Plötzlicher Kindstod«, sagte ich.
    »Ganz genau. Fünfundzwanzig Prozent der Patienten, die einen Herzstillstand überleben, fallen innerhalb des ersten Jahres nach Entlassung aus dem Krankenhaus tot um. Über eine Zeitspanne von

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