Infanta (German Edition)
sein Italien-Plan.
Jeden Abend sprach er davon, jeden Abend hatten sie andere Ziele. Nach dem fünften wolkenlosen Tag erwog er plötzlich, noch einen Teil des Mai in Infanta zu verbringen. »Dann kämen wir erst in Rom an, wenn dort schon zuverlässig Sommer ist«, sagte er, und Maylas ganze Antwort war wieder ihr weiches, über Ja und Nein erhabenes Okay. Am sechsten wolkenlosen Tag überbrachte ihm Jesus Fidelio nach Dienstschluß persönlich einen Brief mit dem Absendervermerk A. Kurt Lukas ließ den Poststellenleiter gratis blättern und riß den Umschlag auf.
»Guter Freund! Ich liebe. Jawohl, Du hörst recht – ich liebe einen Menschen. Nicht den, den Du für mich gewählt hast, nicht die wunderbare Grace, die mir nur den nötigen Mut machte; nein, ich liebe jemand anderen, von fern. Und das heißt, ich will immer noch Missionar werden. Nur weiß ich nach den beiden Nächten mit Grace – ich war ein zweites Mal bei ihr, und glaube mir, die Wiederholung übertraf die Premiere bei weitem –, daß es sich bei meinem Gefühl eindeutig um jene Liebe handelt, die einem einzelnen gilt und nicht der Menschheit. Aber zwischendurch etwas anderes. Im Seminar sprach man von Mister Gussmanns Tod. Den Alten zu kondolieren, wage ich nicht, und wie Du zu ihm gestanden bist, ist mir unklar; aber richte Mayla bitte meine Anteilnahme aus. Sage ihr, ich denke an sie.
Nun zum Leben – warum schreibe ich Dir? Weil ich nicht anders kann. Ich muß von meiner Wiederholungsnacht erzählen, die mir die Augen geöffnet hat. Diese zweiten Stunden mit Grace machten mich glücklich und traurig. Ich spürte, daß ich derartige Erlebnisse gern mit einem anderen Menschen hätte, jedoch nie haben werde – mit dem Menschen, den ich liebe. Irgendwann finde ich wohl den Mut, ihm diese Liebe mitzuteilen. Den Wagemut, den es braucht, einen anderen Körper zu erforschen, habe ich bereits. Grace – von ihr will ich eigentlich berichten – Grace, auf dem Rücken liegend, schlang die Arme um die Kniekehlen – ein Anblick, der mir Schwindel bereitete. Zögernd berührte ich sie und mußte mir sagen lassen, ich solle sie anfassen und nicht betasten wie ein Medizinanfänger . . .«
Kurt Lukas schaute auf. Seit die Sonne den ganzen Tag schien, nahm die Kundschaft langsam zu. Fünf Frauen, vier Männer und acht Kinder zählte er auf den Bänken. Und etwa ebenso viele Hunde unter den Bänken. Immer wieder verjagte er sie; manche fraßen Heftchen vor Hunger. Überhaupt machten ihm Tiere zu schaffen. Den Nachbarn entkommene Hühner, die auf seinem Hof umherirrten. Zutrauliche Ratten. Freilaufende Puter. Hier eine Kröte, da ein Tausendfüßler. Auf seinen Wunsch hatte Flores alles Kleinvieh mitgenommen.
Eine Frau bat um ein Modemagazin vom Januar. Neuerscheinungen waren teurer, zwei Pesos. Mit einer Schaufel und der Geschicklichkeit eines Croupiers hob er das Heft aus dem Angebot auf der Auslage – der schrägen Theke, hinter der sein Platz war – und sah dann wieder in den Brief. »Womit machte mir Grace nun Mut? Alles, was ich tat, war erwünscht, gab sie mir zu verstehen, und wäre es auch für eine andere Frau, wenn man sich gern habe. Sie holte für mich die Frauen auf die Erde. Wir mögen zärtliche Hände, sagte sie, als spreche sie im Auftrag von Millionen – eine Advokatinnenrolle, die es mir erleichterte, die erweckten Gefühle nicht nur auf Grace zu richten. Ich liebte in ihr das ganze andere Geschlecht, und diese Wendung sah man mir irgendwie an. Father Demetrio – er kehrte schrecklich gestärkt von einem Symposium zurück – bat mich zum Krisengespräch. Er schien alles von den beiden Nächten zu wissen, als habe er am Bettrand gesessen, und riet mir, mich zu fragen, wie ich leben wollte. Und das tat ich und begriff, daß es eigentlich nur einen Menschen gibt, den ich liebe – einen unerreichbaren –, und folglich nichts dagegen spricht, Missionar zu werden. Dir mag das quälend vorkommen, mir logisch. Aber darüber will ich nicht streiten. Ich wollte es auch gar nicht erzählen. Immer wieder schweife ich von Grace ab. Frauen mögen es auch, wenn es recht langsam geschieht, sagte sie. Daran hielt ich mich natürlich. Und hielt mich auch an Deinen Rat, wenn es kritisch wird, an andere Dinge zu denken; mit Erfolg . . .«
»Hey, Mister Kurt!«
Er sah auf. Neue Kundinnen standen vor der Theke – drei Verkäuferinnen, die er vom Sehen kannte. Sie fragten nach den Preisen, sie ließen sich die Ware zeigen. Und blieben. Sein
Weitere Kostenlose Bücher