Infanta (German Edition)
Scheven sprach über Chile. Die Feuilletonisten spekulierten über den Gast der Station. Ob der tatsächlich Schriftsteller sei oder nur schön. Dann wurde es still.
Horgan stemmte sich aus seinem Stuhl, nicht einmal Augustin wagte es, ihm zu helfen. Endlich stand er, und Mikrophone und Kameras bildeten eine Art Käfig um den Schwankenden; der deutsche Tonmann zeigte einen aufgestellten Daumen. »Ich will Ihnen nur sagen, was in dieser Gegend die Strafe für Mord ist«, hauchte Horgan mit schwerer Zunge. »Dreißig Liegestütze. Also seien Sie vorsichtig auf dem Heimweg.« Butterworth winkte Augustin vor die Tür. Er drückte dem Novizen den Brief in die Hand und erteilte ihm drei Aufträge. Nach Gregorio zu sehen. Horgan allmählich in die Kammer zu schieben. Mister Kurt zu suchen, ihm den Brief zu übergeben. »Und das alles unauffällig«, sagte er und ging in den Gemeinschaftsraum zurück.
Die Journalisten hatten sich wieder verteilt, sie redeten von der Leiche und Bargeld. Butterworth trat zu Elisabeth Ruggeri. Er sah auf die Uhr und sprach von den Gefahren windloser Nächte, besonders zu vorgerückter Zeit, worauf Horgan seine Liegestütz-These wiederholte, während Dalla Rosa laut über das Unberechenbare des Menschen bei Hitze und Finsternis nachdachte. Pacquin riet dann noch dringend, in solchen Nächten nicht vom Weg abzuweichen und sich im Falle von Schüssen ruhig zu verhalten. »Wir werden natürlich für Sie beten«, sagte er, und ein allgemeiner Rückzug setzte ein. So plötzlich wie der Spuk begonnen hatte, endete er. Butterworth, Dalla Rosa, McEllis und der Superior folgten den Abziehenden bis auf die Veranda. Bepackt wie fliegende Händler, verschwanden zweiundzwanzig Männer und eine Frau in der Dunkelheit, die ein Glühen durchdrang; ein rötlicher Schein lag über dem Ort.
Die Alten waren zu erschöpft, um über den Grund dieses Phänomens nachzudenken. Sie horchten in die Nacht. Wie ein kleiner Damm standen sie nebeneinander, als rechneten sie mit einer zweiten Welle. Pacquin sah auf seinen Totenwachen-Plan; er trug die Namen noch sorgfältig ein, aber konnte sie später nicht mehr lesen. »George und ich sind an der Reihe«, sagte Butterworth und nahm McEllis beiseite. »Sie hat die Kassette und das Heft vergessen, und wer weiß, wann sie’s merkt.« Die beiden verschwanden im Haus, bald folgte Dalla Rosa.
Der Superior blieb zurück. Mit seinen empfindlichen Ohren hörte er in der Ferne das Krachen von Holz und einzelne Rufe. Und wie durch einen sanften Schubs setzte er sich in Bewegung und machte auf der Veranda seine winzigen Schritte gegen den Uhrzeigersinn.
Bei leichtem Wind hätte auch Kurt Lukas das Abbrennen der Bude gehört und wäre sofort zu Doña Elviras Hügel gelaufen. Aber kein Lüftchen ging, und er hielt das ferne Krachen für ein nahes Knistern und die schwachen Rufe für laute Insekten. Er saß wieder auf seinem Balkon; fast eine Stunde lang war er im Gang gestanden, und eine einzige Frage beschäftigte ihn. Wohin, wenn auch Infanta wegfiel. Er legte eine Wange auf die Brüstung und roch am warmen Holz. Nach Rom? Die Stadt interessierte ihn nicht mehr, bis auf ihr Licht. Rom und er, das war eine verschleppte Ehe. An den Bodensee? Den Bodensee ertrug er nur im Juni und Oktober. Ganz Deutschland war zu dunkel. Er war eine Motte. Vielleicht nach Ravello; da gab es immer, tief unten, das Meer und im Notfall einen Felsvorsprung, belvedere cimbrone mit seinem dünnen Geländer, dreihundert Meter senkrecht über der Küste. Er fuhr herum und sagte, »Mayla.«
Doch es war Augustin. »Hier ist ein Brief für dich. Ich glaube, von der Italienerin. Du mußt ihn selbst lesen. Ich kam noch nicht dazu.«
Kurt Lukas nahm den Brief entgegen und legte ihn auf die Brüstung. »Setz dich ein wenig zu mir«, sagte er.
Der Novize kauerte sich.
»Hast du auf Mayla gewartet?«
»Es sieht so aus.«
»Liebst du sie sehr?«
»Du fragst zuviel. Wie immer.«
Augustin nahm sich eine Zigarette. »Wenn ich an deiner Stelle wäre, was würdest du mir raten?«
Kurt Lukas dachte nicht nach. »Geh zu Mayla, schau ihr in die Augen. Und dann sage ihr, was du denkst. Und das tu jeden Tag. Und lüge sie nie dabei an.«
»Und warum sitzt du noch hier, Father Lukas?«
»Nenn mich nicht so. Weil ich nicht die Wahrheit sagen würde. Ich spüre, daß ich weg muß.«
»Allein?«
»Ich werde Mayla bitten mitzukommen.«
Der Novize zog die Brauen zusammen und rauchte. Auf seiner Stirn wurde ein Fältchen
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