Infanta (German Edition)
Gebläseträger. Mit einem Ausdruck falscher Sorge folgte er Doña Elvira und lenkte den Wind auf sie. Gussmann öffnete die Augen. »Das Beste an ihm ist seine Tante Hazel«, sagte er. »Sie gibt hier Nachhilfe in Anatomie; heute ist ihr freier Abend. Aber zurück zu Doña Elvira. Das ist sie übrigens.« Er winkte ihr zu und schloß dann wieder die Augen. »Sie kam irgendwann hier herein und hielt sich zurück, bis alle anderen Anfänger sich gründlich blamiert hatten. Es war bald Mitternacht, ein Abend wie heute, übliches Publikum – Tagelöhner und junge Soldaten, Verkäuferinnen und Pärchen, Jeepneyfahrer und kleine Gauner . . .« Ein Gitarrenvorspiel wie schrilles Gewitter brach über die Bude herein, riß dann ab und schuf einen Moment bangen Nichts, ehe ein einziger Akkord den Leuten das Herz hob. Tische, Stühle, Wände, ja, selbst der Kassenkäfig schienen plötzlich mit Leben erfüllt. Die Musikbox ruckte, Flaschen tanzten, Bier floß über. You Really Got Me. Doña Elvira sang.
Wilhelm Gussmann brüllte jetzt mit seiner tiefen Stimme. »An diesem Abend war Ben Knappsack hier und saß am Schlagzeug. Ein Australier mit deutschem Blut, du wirst ihn noch kennenlernen. Ein Draufgänger wie Gregorio; ich mache mir sonst nichts aus Piloten, aber er genießt das notwendige Ansehen für diesen Vergleich. Ein Mann, der genau gespürt hat, was da für eine ungewöhnliche Frau in der hintersten Ecke stand und nur darauf wartete, daß ihr jemand ein paar gute Takte vorgab.«
Doña Elvira kam von der Bühne, gefolgt von ihrem Lakai. Wiegend durchschritt sie die Gassen zwischen den Tischen, unberührbar streifte sie durch ihr Lokal; nur an Gussmanns Tisch ließ sie sich einen Augenblick nieder und raunte Kurt Lukas etwas ins Ohr. Mit ihr zu schlafen koste ihn zweihundert Pesos oder zehn Dollar. Dollar seien ihr angenehmer, größere Scheine könne sie wechseln. Sie machte den Seufzer der Liebenden nach, und schon war sie woanders, und der frühere Priester fuhr fort. »Knappsack führte Elvira zur Bühne, gab ihr das Mikrophon und fragte: Was möchtest du singen? Worauf sie ihn nur ansah, und der Bursche verstand. Er lief zur Musikbox, drückte zwei Knöpfe, und schon ging es los – Dumm, dumm, duu, duduuh. Starts spreatten the news . . .« Wilhelm Gussmann sang diese Zeile mit brüchigem Baß, gleichzeitig dröhnte der berühmte Anfang von New York New York durch die Bude; während Doña Elvira wieder die Bühne erklomm, kam er zum Höhepunkt seiner Erzählung. »Dieses wunderbare Lied, das sie unzählige Male über einem der kleinen Löcher im Boden vor sich hingesummt hatte, sollte ihre Glanznummer werden. Beinahe flüsternd fing sie an zu singen. Ton für Ton pirschte sie sich an den ersten Refrain. Sie sang nicht einfach, sie buchstabierte das Lied. Sie weihte es der ganzen Bude und schaffte es, den Mittelpunkt der Welt zu verlagern – hier, in diesem Bretterschuppen, war auf einmal New York! Was dann geschah, ist Legende. Wie ein Raubtier, das Blut geleckt hat, bewegte sie sich durch das Spalier ihrer Bewunderer. Sie sang auf Teufelkommraus. Die Leute hielten einander an den Händen, und neun Monate später zeigte sich, was in dieser Nacht sonst noch geschehen war und sicher nicht geschehen wäre, hätte Elvira ein neues Lied angestimmt. Doch dazu war sie zu klug. In den Jahren über den Gucklöchern hatte sie immer wieder mitangesehen, daß man die Menschen mit der Aussicht auf Wiederholung in weit größere Verzückung bringen kann als durch Abwandlungen oder gar Experimente, und darum begann sie von vorn . . .« Ein Mann in Feldbluse setzte sich neben Kurt Lukas; jemand hatte für ihn einen Stuhl frei gemacht. Er grüßte den früheren Priester, indem er seine schweren Lider anhob. Gussmann wechselte die Sprache. Laut und heiser fuhr er auf englisch fort, umbrandet vom Beifall für die Frau auf der Bühne. »Schließlich brach Jubel aus, und man warf ihr Sträuße aus Geldscheinen zu, und der sonst wortkarge Knappsack sprach von einem Wunder. Trotz ihrer Jugend ließ er sie als Doña Elvira hochleben, worauf sie ihre Schweißperlen im Publikum verteilte.«
»Genauso war es«, bemerkte der Mann in Feldbluse zu Kurt Lukas. »Aber durch diese Geschichte bekommen Sie ein falsches Bild von uns, vorausgesetzt, Sie reisen in den nächsten Tagen wieder ab.«
»Er wird bleiben«, sagte der frühere Priester und stellte den Mann als Oberst Almandras vor. »Für seine Leute nur der Kommandant. Übrigens auch
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