Infanta (German Edition)
im Erdgeschoß zu führen. Den Rest der Zeit nahm sie sich für die Erziehung ihrer einzigen Tochter, die keine Hure werden sollte. Sie engagierte den besten Gesangslehrer der Stadt, damit Elvira eine reiche Sängerin werde. Aber das Töchterchen zeigte nur für eines Interesse: für die Löcher im Fußboden – für das, was sie durch diese Löcher erblickte.« Gussmann zog ein Tuch aus der Hose und trocknete sich sein bernsteingelbes Gesicht ab. »Und nun kommt ein etwas langer, aber entscheidender Satz«, fuhr er fort. »Ihren Blick auf das dem Inhalt nach immer gleiche, den Umständen nach doch sehr veränderliche Liebesgeschehen gerichtet, übte sie halbverträumt weiter, was der Gesangslehrer ihr beizubringen versuchte, amerikanische Evergreens vor allem, und entwickelte allmählich eine Gesangsqualität, die ihr erst hier, in dieser Bude, zum ersten Mal richtig bewußt wurde. Ich war dabei und werde diese Nacht nie vergessen.«
Gussmann erzählte flüssig. Dafür gab es einen einfachen Grund, den er verschwieg: Er hatte die Geschichte Wort für Wort im Kopf. Jedem, der zum ersten Mal in die Bude kam, trug er sie vor, dem einen auf cebuano, dem anderen auf englisch. Nur diese deutsche Version bedeutete eine Premiere. Das Erzählen war eine von drei Leidenschaften, die den früheren Priester am Leben erhielten.
Die viel beachtete Tür ging auf, Wilhelm Gussmann sprach weiter. »Vielleicht möchtest du jetzt wissen, mein Werter, woher ich das alles habe? Nun, das Dunkle in mir hat mich irgendwann in Doña Elviras Arme getrieben. Es wurde aber eher eine Nacht der Konversation, wenn du so willst. Sagte ich gerade du? Sie müssen sich wehren, wenn ich Ihnen zu nahe trete, mir fehlt die Übung im gesellschaftlichen Umgang. Natürlich könnten wir uns gegenseitig duzen, wenn Ihnen das angenehmer wäre.« Aus der offenen Tür trat ein Junge. Er war noch keine fünfzehn, hatte aber schon die sorgenumwölkte Miene eines Kapitäns. Wie eine Monstranz trug er einen Tischventilator vor sich her.
»Ferdinand«, sagte Gussmann. »Doña Elviras Lakai. Bedient die Elektrik der Bude und übernachtet hier auch. Ein bösartiger Tüftler.« Der frühere Priester schloß die Augen und setzte seine Erzählung fort, während der Junge die lange Schnur des Ventilators mit einer Steckdose verband. »Elvira ahnte, welche Kraft in ihr ruhte. Gerade zwanzig geworden, wollte sie ihre Begabung, von der sie sich zwar keinen Reichtum, aber viele Liebhaber versprach, in einem geeigneten Lokal erproben.« Er holte Luft und führte eine Faust zum Herzen. »Wie mußte dieses Lokal aussehen? Es mußte ein finsterer, bis zum Tagesgrauen geöffneter Schuppen sein, in dem jeder noch so Untalentierte, also etwa auch ich oder du, begleitet von einem zweifelhaften Berufsmusiker sein Debüt haben könnte und ein für allemal erführe, wer er ist und wer er nicht ist.«
Das Pfeifen hörte auf. In der offenen Tür erschien eine Frau. Unumstößlich stand sie da. Ihr Blick ging über alle Köpfe. Sie trug ein flaschengrünes Atlaskleid; leuchtend hob es sich von ihrer schwarzen Haut ab. Es wurde still in der Bude. Nur der Ventilator in Ferdinands Händen surrte noch, und aus der Tiefe des Publikums kam ein leiser, einzelner Schluckauf. Doña Elvira legte den Kopf zurück und zog spöttisch die Brauen zusammen. Sie war eine hinreißend häßliche Frau. Ihr Gesicht lief auf gewaltige Lippen hinaus, die balkonartig ein fliehendes Kinn überragten. Sie besaß kleine runde Augen mit ständig bebenden Wimpern und hatte glatt nach hinten gebürstetes Haar. Bis zum Nacken war es gebändigt, von da an fiel es ihr als herabhängender Busch über einen glänzenden Rücken. Unter Beifall drehte sie sich einmal um sich selbst und schwenkte die Hüften bei ruhigem Oberkörper, bevor sie rhythmisch mit ihren Absätzen stampfte bei ruhigem Unterleib. Die Leute wollten sich kaum beruhigen, und Wilhelm Gussmann fuhr fort, als gälten Applaus und Hochrufe ihm.
»Elvira wußte selbstverständlich, was so ein allererster Auftritt bedeutet, und folglich schied ihre Heimatstadt für die riskante Unternehmung von vornherein aus. Geduldig wartete sie auf ihre Chance und nutzte schließlich einen Besuch bei entfernten Verwandten, um in dieser Bude hier aufzutreten, die ihr heute gehört. Ihr damaliger Besitzer war der Gouverneur dieser Gegend. Inzwischen ist er es nicht mehr. Arturo Pacificador.«
Die schwarze Sängerin betrat die Bühne, und Ferdinand begann seinen Dienst als
Weitere Kostenlose Bücher