Infanta (German Edition)
Sie teilten die restlichen Feigen und überboten sich darin, langsam zu kauen. Als die Schüssel leer war, drang aus der Hauskapelle leiser Gesang. Die Dämmerung brach herein, und Horgan schien mehr und mehr eins zu werden mit seinem Stuhl und der Terrasse, mit der Dunkelheit und der Luft, ja, mit den Glühwürmchen, die vor und hinter ihm blinkten.
Kurt Lukas sah auf das eingesunkene Bündel. Dieser alte Mann war fast gelähmt und sprach nur mit Mühe, hatte nie eine Frau umarmt oder es längst vergessen, bekam Milchbrei gefüttert und mußte bald sterben, erfreute sich an billigen weißen Schuhen und schaute in das immer gleiche Buch. Was machte ihn ruhig. Er fragte Horgan und erhielt sofort eine Antwort. »Ich werde geliebt, Mister Kurt. Und muß um diese Liebe nicht bangen. Es geht mir gut.«
»Sie sterben in Kürze.«
»Ich bin vorbereitet.«
»Keine Angst?«
»Oh, doch, doch, doch. Aber weniger als Sie.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe nachgedacht. Man darf nie müde werden nachzudenken. Ihre Angst vor dem Sterben ist größer als meine.«
»Glauben Sie, ich hätte Todsünden begangen?«
»Haben Sie Menschenleben auf dem Gewissen, Mister Kurt? Ich hoffe nicht.« Horgans Kopf sank zur Seite. Das Abendbrot entfalle heute, statt dessen werde man für den Wahlsieg beten, hauchte er noch und verkroch sich dann hinter seinem taktischen Schlaf. Der Gesang hatte aufgehört; die Fenster zum Gemeinschaftsraum waren dunkel. Grillen zirpten, und irgendwo schleckte die Hündin ihre Milch.
Kurt Lukas spürte das Messer in seiner Tasche und fürchtete sich. Vor Horgan, vor der Stille, vor Narciso. Vielleicht war es sogar Angst. Natürlich hatte er Menschenleben auf dem Gewissen, vier oder fünf, er wußte es nicht so genau. Wer weiß denn, wie sich das entscheidet, dann und dann kein Kind zu wollen, eigentlich selten durch ein Nein, meistens reicht schon das fehlende Ja, gewöhnliches Schweigen, weniger als ein nach unten gerichteter Daumen. Er zog das Messer hervor, spielte damit und schnitt sich. In dünnen Fäden lief ihm das Blut über den Finger, und er wickelte das fremde Hemd darum. Schmutzige Klinge, schmutziger Verband, Tod durch Vergiftung; er stellte sich das noch lebhaft vor, als der Superior und Butterworth die Terrasse betraten. Ohne ein Wort löste der bleiche Priester die Bremsen an Horgans Stuhl und rollte ihn ins Haus.
Pacquin schob einen der Rohrsessel an die freigewordene Stelle und entschuldigte sich für den nahtlosen Wechsel – »er hat etwas Lächerliches wie jede Stafette. Aber ich schlafe in den windlosen Nächten nicht gut, Mister Kurt. Und dann sitze ich hier. Manchmal kommen auch die anderen, und wir warten gemeinsam die Vieruhrbrise ab. Als Mayla noch bei uns war, kam sie nach windlosen Nächten auf die Terrasse, um nachzusehen, ob wir eingeschlafen waren. Das konnte in den Morgenstunden natürlich geschehen, und dann saßen hier fünf, mit Gregorio sechs alte Männer, schnarchten wohl auch ein wenig, und sie hat jeden von uns mit dem leisen Klang seines Namens geweckt. Gute Augenblicke. Sie liegen hinter mir, Mister Kurt.« Er bat um das Kreuz und hielt es eine Zeitlang. Mit den Worten »Ich nehme an, Sie sind Mayla gestern gefolgt« reichte er es weiter. »Mein Wunsch war, Sie würden ihr nicht folgen. Ich hatte wenig Zweifel, wo sie von uns aus hinliefe. Mit Liebenden soll man sich keine Unbedachtheiten erlauben. Und Mayla ist eine Liebende. Sie liebt auch Sie. Aber sie ist auch eine Gerechte. Und belohnt jedes Warten. Und achtet darauf, ob jemand Feigheit vor der Liebe zeigt. Wahrscheinlich kenne ich Mayla genauer als andere, weil ich wie Mayla hier geboren bin. Außerdem verwirrt mich ihr Äußeres nicht mehr. Ich sehe sie nur noch als Schatten und erwarte daher kein bestimmtes Lächeln. Und schon gar nicht gewisse Augenspiele oder Bewegungen. Sie, Mister Kurt, erwarten das alles. Und viel mehr. Die Offenbarung. Glauben Sie denn an Gott? Verzeihen Sie mir diese Frage« – Pacquin verbeugte sich im Sitzen –, »Sie zögern mit der Antwort, also nein. Ihr gutes Recht. Und vielleicht auch guter Instinkt. Sie spüren, daß Glaube mehr ist als eine Spielart der Melancholie. Ebensowenig wie ein Denkstil für Interessierte oder irgendeine andere Verfeinerung des Lebens. Dieses Kreuz sähe mit Ihnen zusammen auf einem Bild keineswegs vorteilhafter aus, Mister Kurt.«
»Schon möglich, Father. Aber warum reden Sie jetzt erst mit mir?«
»Bisher erschienen Sie mir immer zu
Weitere Kostenlose Bücher