Infanta (German Edition)
ganzes Rasenstück färbte, vor einer stummen Menge und einem Mann, der auf dem Bauch lag. Narciso stieg aus. »Ich komme gleich wieder. Lassen Sie sich von dem Toten nicht nervös machen.«
Kurt Lukas faltete die Hände im Nacken. Wie ein Bild, das er nur in unzähligen Reproduktionen gesehen hatte und nun endlich, nach Jahren, als Original zu Augen bekam, betrachtete er seinen ersten Erschossenen, offenbar am Kopf getroffen; ein einzelner Falter, ultramarin, stand über dem schwarzroten Haar. Seiner Kleidung nach war der Tote noch jung. Kurt Lukas konnte das Gesicht nicht sehen; wäre er ausgestiegen und näher getreten, hätte er bemerkt, daß es kein Gesicht mehr gab. Doch blieb er sitzen und schaute abwechselnd auf den Toten, dessen Beine verdreht waren, und in den sonnendurchbrochenen Dunst, der aus dem Wald hinter der Menge aufstieg. Narciso trat an den Jeep. »Gehen wir besser hinein.«
Der Wahlraum war ein Klassenzimmer. Auf dem Pult lag das Wählerverzeichnis. Über der Tafel war die Landesflagge gespannt. Auf einem Stuhl stand die Urne. Vor den Ecken des Raumes hingen Tücher, die Kabinen. Zwischen den Bankreihen lag die Verletzte. In ihrem Blut kniete ein Mann. Kurt Lukas sah in zwei verzerrte Gesichter, und sein Herz begann heftig zu klopfen. »Es ist gleich vorüber«, sagte Narciso. »Ein plattgefeiltes Geschoß. Man erkennt es an dem großen Loch. Sie müßte längst tot sein.« Die Frau lag auf dem Rücken, mit weit offenen Augen. Ihre Brust war eine Grube voll Blut. Kurt Lukas wollte nach draußen stürzen, der Polizeichef hielt ihn fest. Er sprach von einem Flugticket. Das lasse sich auftreiben. Und sei keine Frage des Geldes. Ein Ticket für die einzige Maschine, übermorgen. »Der Sitz neben Doña Elvira«, erklärte er. »Etwas beengt, aber dafür sind Sie nach eineinhalb Stunden wieder unter Menschen.« Narciso bückte sich zu dem knienden Mann. Er sprach beruhigend auf ihn ein, erfuhr seinen Namen, sagte, er werde ihn erst verhören, wenn es ihm besser gehe, und kam dann auf das Angebot zurück. Ein Hinweis nur, eine Andeutung zu Gregorios Heimkehr, und er kümmere sich. »Aber gehen wir erst ans Fenster und schauen, was die Leute machen. Sie sind sehr rasch zu beeindrucken; so ein Zwischenfall könnte sie vom Wählen abhalten.«
Die Leute blickten unverändert auf den Toten. Über dem dichten ansteigenden Wald hinter der Menge lag immer noch sonnendurchbrochener Dunst. »Hier geschieht das Schrecklichste in einem Garten Eden«, bemerkte Narciso. »Wenn ich könnte, würde ich die Insel auch verlassen. Sogar das Land.« Er legte seine Hände auf Kurt Lukas’ Schultern. »Aber wohin dann?« rief er und zählte Weltstädte auf wie die Namen sagenumwobener Huren. Ein Keuchen unterbrach ihn. Die Frau am Boden lebte und lebte, und ihr Mann verlor den Verstand. Er warf sich über sie und tauchte beide Hände in die offene Brust, er schrie. Wie Glocken hallten diese Schreie für Kurt Lukas, als er begriff, wonach der Mann grub. Eine Sekunde lang erschien ihm das Ungeheure menschlich, dem Leiden ein Ende zu machen. Dann sah er den Blick der Frau, und alles Menschliche wich einem Chaos. Und in einem Atemzug, leiser und leiser werdend, gab er wieder, was die Alten der Ansichtskarte aus Rom entnommen hatten, und holte erst Luft, als der Mann nicht mehr schrie, nur noch kniend einen Klumpen in der Hand hielt, das Herz seiner Frau.
Auf dem Fenstersims hüpften Spatzen. Kurt Lukas hörte ein fernes Geraschel. Seine Ohren hatten sich verschlossen. Narciso boxte ihn sanft in die Rippen. »Ich hole Sie dann morgen im Laufe des Nachmittags ab. Als Augenzeuge. Solche Wahnsinnstaten werden gern von höherer Stelle untersucht. Wir fahren nach Cagayan, und alles wird gut.« Er trat vor das Wahllokal und winkte der Menge zu.
»Die Demokratie kann weitergehen«, rief er.
Die Demokratie. Sie sei schon im voraus der Sieger, hatte der amerikanische Präsident in seinem Grußwort zur Wahl gesagt. In jedem Fall werde sich zeigen, daß es mehr als eine Partei gebe. Auf der Station schüttelte man darüber den Kopf. Butterworth, McEllis und Horgan saßen in tiefen Rohrsesseln auf der Terrasse und schauten über das Tal im Mittagsglast. Sie nahmen an dem von aller Welt beachteten demokratischen Vorgang nicht teil. Die drei besaßen immer noch amerikanische Pässe und wollten sie auch behalten. Nach wie vor beantragten sie einmal im Jahr eine Verlängerung ihres Visums. Bei allem Kopfschütteln über das ferne
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