Infanta (German Edition)
Nachmittag, ehe er sich für den Abend das Haar wusch, sah er die Lebende Mauer im Fernsehen. Er dachte nicht daran, in die Stadt zu gehen. Elisabeth Ruggeri war eine famose Erzählerin. Sie war auch eine famose Geliebte, bestand nur darauf, daß der Fernseher lief, und war fast aus jeder Position zu Kommentaren imstande. Kurt Lukas machte das nichts aus. Im Gegenteil; ihr Selbstbewußtsein, wenn es das war, erschien ihm wie ein zweiter erregender Körper, in den er eindringen konnte. Außerdem gefiel ihm der dramatische Ton dieser Tage, der aus dem Fernseher kam. Ideale Bedingungen, um ein Gesicht zu vergessen.
Die Wahl lag über eine Woche zurück, und es gab noch immer kein offizielles Ergebnis. Vieles deutete darauf hin, daß die Opposition einen Vorsprung besaß. Ohne Stimmenkäufe, die jetzt täglich ans Licht kamen, wäre der Vorsprung sogar beträchtlich, hieß es. Solche Enthüllungen sendete nur das kirchliche Fernsehen. Alle anderen Kanäle brachten Werbung und warnende Bilder von der Herrschaft der Straße. Ein Kanal war ständig für den Präsidenten reserviert. Er hatte sich bereits zum Sieger erklärt und seine Vereidigung angekündigt, wenn nötig, mit dem Gewehr in der Hand. Auf die treulosen Offiziere wollte er feuern lassen, die Menschenmauer hielt er für Journalistenerfindung, jede Nacht nannte er schicksalhaft, die Tapfere Witwe erklärte er für verrückt; als sie einen Tag später, zur besten Sendezeit, ebenfalls ihre Vereidigung ankündigte, verschlug es ihm für Stunden die Sprache, und ein Kriegsfilm füllte das Programmloch.
Kurt Lukas und Elisabeth Ruggeri sahen diese Ankündigung vom Bett aus. Während er das Bett kaum verließ und deshalb gerade erst wieder mit der Küche telefoniert hatte, wäre sie lieber ausgegangen. Doch sie saß neben ihm, und er wußte nicht, was er erstaunlicher finden sollte, solchen Einfluß zu besitzen oder ihre Wandlung. In seiner Nähe schien sie ihm sogar jünger geworden zu sein. Auf jeden Fall wieder deutscher. Sie redete kaum italienisch, vermied selbst Ausrufe wie Salute und ersparte ihm überhaupt alles Getue. Ab und zu sprach sie von einem Buch, für das sie Stoff sammle; alle Umarmungen mit ihr, nach dem Mittagessen oder spätabends, verliefen friedlich.
Der Zimmerkellner brachte ein Essen auf einem Wagen mit zwei silbernen Glocken. Gleichzeitig hob er sie an, unter jeder lag ein kleines Beefsteak. Sie aßen im Bett. Beide machten sich nichts aus Beefsteak. Von Tag zu Tag hatten sie sich unerfreulichere Gerichte kommen lassen, als müßten sie sparen. Die Entwicklung war von seiner Seite ausgegangen. In der ersten langweiligen Minute zwischen ihnen hatte er Gulasch bestellt.
»Wir könnten jetzt irgendwo sitzen«, sagte Elisabeth Ruggeri, »und fressen.« Sie aß die Salatblättchen, die zum Beefsteak gehörten. »Und ich habe dich immer für einen beneidenswert leeren Genießer gehalten. Wahrscheinlich weil ich deine Arbeit so leer finde.«
»Sie ist traurig, nicht leer. Es gibt ein Bild von mir, auf einem Tuch. Ich liege auf dem Rücken, die Arme leicht ausgebreitet, schlafe oder träume. Der vom Kreuz genommene Erlöser. Alles Irdische liegt hinter mir, alles Himmlische vor mir. Dank eines Rasierwassers. Das Bild erscheint erst im März, du kannst es nicht kennen, oder haben wir schon März?« Er war durcheinander. Wann hatte er seine Wohnung verlassen? Irgendwann, zwischen den Jahren, bei Regen; auf dem Weg zum Flughafen hatte der Taxifahrer Familienfotos nach hinten gereicht. Zwei Töchter, drei Söhne, alle häßlich. So etwas behielt er.
Kurt Lukas holte sich Bier aus dem Kühlschrank. Im Fernsehen kamen jetzt Berichte über Zwischenfälle in entlegenen Orten. »Letzten Herbst wurden die Aufnahmen gemacht. Jemand von der Kosmetikfirma war dabei. Uns geht es hier um die Verbreitung einer Duftphilosophie, erklärte er mir.« Elisabeth Ruggeri räumte die Teller aus dem Bett, streifte ihre Uhr ab und streckte sich aus. »Das ist also gestorben für dich«, sagte sie. »Und was wirst du in den nächsten zwanzig Jahren tun?« Er nannte seine Traumberufe. Nachtclubsänger. Privatsekretär. Vizekonsul. Eisverkäufer. Maler. Er küßte ihre Ohren, ihre Schultern, ihre Achseln, ihre Brust, ihren Bauch, und Elisabeth Ruggeris Beine bewegten sich wie Flügel eines startbereiten Falters. Bis ein Name fiel, den beide kannten.
Kurt Lukas drehte sich um. Auf dem Platz vor der Kirche, inmitten des Tagesmarkts, stand ein Reporter, umgeben von Kindern.
Weitere Kostenlose Bücher