Infantizid

umrundete, streifte er abermals das Tuch und es rutschte seitlich herunter. Einer seiner Leibwächter reagierte und kam unvermittelt von der Eingangstür heran, um es wieder aufzuheben. Matti Klatt konnte gerade noch die großen Buchstaben erkennen, die auf dem Modell der Insel Rügen ein Wort bildeten: INTERNIERUNGSZONE.

    Paweł bedeutete Dariusz mit einer Handbewegung, den Mann vorbeigehen zu lassen. Als sie am vergangenen Abend den Auftrag aus Deutschland erhalten hatten, das Lager aufzuklären, entschlossen sie sich, zuerst mit den linken vier der insgesamt acht Gebäude anzufangen. Sie waren unbemerkt auf das Gelände gedrungen und befanden sich jetzt im Obergeschoss des Hauses IV. Es war schon hell, als sie in das letzte Bauwerk schlichen. Offensichtlich war hier so etwas wie eine Verwaltung untergebracht. Hin und wieder liefen ein paar Männer mit Akten über die Flure und verschwanden dann hinter Bürotüren. In den ersten drei Trakten befanden sich die Versorgungseinheit mit Küchen und Speisesälen sowie Unterrichtsräume. Der Mann mit den Akten, der dort entlang latschte und in ein Büro ging. Dort wollten sie bis zum Einbruch der Dunkelheit abwarten. Im Keller angekommen, fertigten sie für den litauischen Major Krasauskas eine Skizze des Lagers mit allen Einzelheiten für den bevorstehenden Angriff an.
    Â»Wahrscheinlich sind die Unterkünfte der Soldaten in dem anderen Flügel«, flüsterte Paweł.
    Â»Mit Sicherheit. Wir sollten uns einen Platz suchen, wo wir einen besseren Überblick haben. Ich verlasse das Lager nicht eher, bevor ich weiß, wo Arndt und Zbigniew stecken«, antwortete Dariusz ebenfalls kaum hörbar.
    Â»Es ist am Tag zu gefährlich. Warten wir die Dunkelheit ab und gehen dann rüber auf die andere Seite. Sobald wir herausgefunden haben, wie viele Söldner wo untergebracht sind, suchen und befreien wir die beiden.«
    Sie richteten sich in dem kalten, feuchtmodrigen Raum so gut es ging ein und vereinbarten, sich alle zwei Stunden mit dem Wachehalten abzulösen. Dariusz übernahm die erste Wache. Paweł war bereits kurze Zeit später in einen traumlosen Schlaf gefallen. Nach noch nicht einmal vier Minuten fielen auch Dariusz die Augen zu. Beide waren zu erschöpft, als dass sie die Gestalt, die sich ihnen lautlos näherte, eine Maschinenpistole mit aufgesetztem Schalldämpfer im Anschlag haltend, wahrnehmen konnten. Den ersten Schuss, den die Gestalt abfeuerte, konnte außerhalb dieses Raumes niemand hören.

    Zur gleichen Zeit vervollständigten Bräunig und Hubaczek in Berlin den Fragenkatalog für die durchzuführenden Vernehmungen und bereiteten dessen Versand an die entsprechenden Landeskriminalämter vor. Sie waren am vergangenen Abend kurz vor Mitternacht wieder in der Hauptstadt gelandet. Nach nur fünf Stunden Schlaf und einem kurzen Frühstück begannen sie mit ihrer Arbeit. Von ihrer Dienststelle aus Weimar erhielten sie ein Fax mit dem Hinweis, dass mehrere Zeugen aus Osnabrück den Hessen auf einem Foto wiedererkannt hatten.
    Â»Der Mord an dem Bankdirektor. Alfred Stein, 61 Jahre, vermutlich mit einem Handkantenschlag getötet«, bemerkte Hubaczek, als er das Fax las. Die Daten hatte er im Kopf.
    Â»Wie man sich nur so was alles merken kann«, murmelte Bräunig vor sich hin. Zumindest standen die Chancen nicht schlecht, diesen Mord vollständig aufzuklären. Er nahm Hubaczek das Fax aus der Hand. Die Liste aller Wehrpflichtigen sei auch angekommen, las er.
    Â»Es wird zwar eine Herkulesarbeit, aber ich denke, wir können einen Teil der Schwarzen Division namentlich erfassen. Was meinst du?«
    Â»Schon möglich. Allerdings müssen wir zunächst einmal unsere eigenen Reihen von dem Ungeziefer befreien. Zuallererst schlagen wir der Schlange den Kopf ab. In ein paar Stunden fangen wir damit an. Die Polizisten der tschechischen URNA sind bereits seit heute Vormittag auf dem Weg zu den Personen des Komitees«, sinnierte Hubaczek.
    Auch alle anderen Spezialeinheiten erhielten von ihren Vorgesetzten an diesem Morgen ihre Einsatzpläne. Kurze Zeit später begannen sie mit dem Verladen der Ausrüstung und bereiteten sich auf den Abmarsch nach Deutschland vor.

    Nur das Geräusch des automatischen Zurückschnellens des Schlosses der Maschinenpistole ließ Paweł blitzartig erwachen. Den Schuss selbst hatte auch er nicht wahrgenommen.