Infantizid
Luftröhrenkrampf bekam. Er verschluckte sich und hustete, die Augen tränten und wollten herausspringen. So ein Krampf war an der frischen Luft schon unangenehm und gefährlich. Dies passierte hier zudem ausgerechnet nachts, unter Wasser, in der strömungsstarken und kalten Elbe!
Nach der ersten Panik und dem unkontrollierten, wilden Um-sich-Schlagen wurde Matti Klatt plötzlich ganz ruhig. Eine angenehme Schwere breitete sich in ihm aus. Alles um ihn herum schien ihm gleichgültig zu sein â¦
Jentzsch hatte in der Zwischenzeit das Sicherungsseil an einem Baum festgebunden und die anderen zu Hilfe geholt. Gemeinsam zogen sie Matti Klatt aus den Fluten.
Hustend und spuckend wachte er kurze Zeit später am Ufer auf. Jentzsch kniete schwer atmend neben ihm. Wasser- und SchweiÃtropfen liefen ihm über das Gesicht. Matti Klatt konnte nur schemenhaft erkennen, was um ihn herum geschah. Er hörte nur Flüstern. Jentzsch beatmete seinen Freund und tat alles, um ihn zu retten. Dieses Mal war es keine Ãbung, kein böser Jungenstreich, sondern todernst. Es hätte unvorstellbare Konsequenzen für alle nach sich gezogen.
Das Netz mit den Hühnern hatte sich gelöst und war in der Elbe längst weit abgetrieben. Das war inzwischen völlig unwichtig und der Hunger hatte sich durch den Schrecken von allein verflüchtigt. Es zählte nur noch, dass Matti Klatt gerettet werden konnte.
Als sie eine Stunde später lustlos auf Baumrinde herumkauten, bedauerten sie den Verlust der Hühner dann doch wieder.
Die gemeinsamen Erlebnisse, die ertragenen Schindereien und vor allem das Ereignis an der Elbe hatten die Kameraden Matti Klatt und Ralph Jentzsch zu echten Freunden werden lassen.
Samstag, 25. Oktober 2003, 8:10Â Uhr, Polizeiinspektion
Alle hatten Matti Klatt gebannt zugehört, ohne ihn zu unterbrechen.
»Und das war nach dem ersten Jahr schon so. Wir hätten eigentlich noch zwei gemeinsame Jahre dort oben auf der Insel vor uns gehabt. Wenn man Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat zusammen ist, lernt man den anderen besser kennen als sich selbst. Er war wie ein Bruder, wir fuhren gemeinsam in den Urlaub oder zu ihm nach Berlin. Egal, wo es hinging, Hauptsache, mit Ralle. Ãbrigens bekamen wir unseren ersten Urlaub nach zehn Monaten im August 1979! Es hat schon keiner mehr daran geglaubt, überhaupt welchen zu bekommen. Wir haben gesoffen, endlose Wachen geschoben, waren in allen möglichen Ausbildungslagern und saÃen einmal sogar in trauter Zweisamkeit im Bau. Man hatte uns erwischt, wie wir Samstagmittag mitten auf den Exerzierplatz gepinkelt haben, nachdem wir statt zum Friseur in eine Kneipe gegangen und sternhagelvoll wieder zurückgekommen waren. Natürlich mit ungeschnittenen Haaren.
Er war politisch nicht aktiv, weder links noch rechts. Er wollte wie wir anderen eben was Besonderes erleben. Auf keinen Fall war er gewalttätig oder gewaltbereit. AuÃerhalb des Dienstes, meine ich. Im Falle eines militärischen Einsatzes hätten wir natürlich jeden Befehl ausgeführt. Dazu wurden wir ja ausgebildet.«
»Und weiter? Was geschah dann? Haben Sie die drei Jahre zusammen durchgestanden?«, fragte Bräunig interessiert.
»Nein. Das war es ja, was ich nie verstanden habe. Er kam irgendwann aus dem Urlaub zurück und hatte beschlossen, Pazifist zu werden. Stellen Sie sich das mal vor! Nachdem wir so viel gemeinsam erlebt hatten, stand für ihn fest, keinen Tag länger eine Uniform tragen zu wollen. Obwohl wir uns geschworen hatten, es bis zum Schluss gemeinsam durchzuhalten. Uns wurde während der gesamten Ausbildung auch immer wieder eingehämmert, wer der Feind war und wo er stand. Wenn unsere Ausbilder bei einem Marsch âºPershing-Zwei-Angriffâ¹ brüllten, aber keine Angaben machten, aus welcher Richtung diese Mittelstreckenraketen angeflogen kamen, mussten wir uns automatisch Richtung Westen werfen. Nur von dort konnte der Gegner kommen. Doch der Feind im Westen war auch nicht der Grund für seinen Sinneswandel.«
Frühjahr 1980, Bereitschaftsraum, Abflugzone
1979 wurde auch das Fallschirmjägerbataillon mit der internationalen Lage konfrontiert. Die Russen waren in Afghanistan einmarschiert, natürlich um den Sozialismus zu retten. Im Golf brach der Krieg zwischen Iran und Irak aus, in der Türkei putschten sich Militärs an die Macht. In Polen entstand nach einer
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