Infantizid
Polizei.
»Also gut«, sagte er laut zu sich selbst. Matti Klatt hatte sich endgültig entschieden. Er wollte wissen, was es mit dem Wort âºInfantizidâ¹ auf sich hatte.
Sommer 1988, Einsatzleitung Antiterroreinheit, westlich von Weimar
Es war ein herrlicher, warmer, wie im Bilderbuch beschriebener Sonntag im Juli des Sommers 1988. Um die Mittagszeit, so etwa gegen 12:30 Uhr, freute sich Matti Klatt schon auf das wundervolle Essen. Er war gerade dabei, die KartoffelklöÃe in das kochende Wasser zu legen, als der Anruf kam. Er nahm das Gespräch entgegen und meldete sich fragend: »Ja?«
»21?«
»Ja.«
»Gassenhauer.«
Matti Klatt legte auf. Er zögerte keine Sekunde, holte seine Waffe aus dem Tresor, schnappte sich den Autoschlüssel und verabschiedete sich mit einem kurzen Kuss von seiner Frau. »Diesmal brauchst du nicht auf mich zu warten. Es wird länger dauern.«
Sie nickte nur und er machte sich auf den Weg. Solche Einsätze fragten nicht danach, ob das Essen auf dem Herd stand. Hatte man sich für diese Art von Arbeit entschlossen, musste man dazu stehen und jederzeit einsatzfähig sein. Ob Bereitschaft oder nicht. Nur schade um das schöne Essen. Seine Frau Heike wusste ungefähr, womit er seine Brötchen verdiente, und fragte nicht weiter.
Er fuhr die für diesen Fall vorgeschriebene Route und holte die Kollegen ab, die ebenfalls informiert waren und startklar vor ihren Häusern warteten.
»Weià jemand von euch schon etwas Genaueres?«, fragte ein Mitfahrer.
»Nein, aber wenn das ganze Zauberwort ausgesprochen wird, ist die Kacke richtig am Dampfen«, antwortete ein anderer.
Jeder der Angehörigen dieser speziellen Truppe hatte aus Sicherheitsgründen eine Nummer, Matti Klatt war die 21. Das Codewort âºGassenhauerâ¹ zusammengesprochen, bedeutete höchste Priorität und alle, ohne Ausnahme, mussten unverzüglich zur Dienststelle. Es galt, ein Schwerstverbrechen zu bekämpfen, denn jede vorher eingeleitete MaÃnahme hatte keinen Erfolg gebracht. Hätte der Anrufer nur âºGasseâ¹ oder âºHauerâ¹ gesagt, wären einige Kollegen in Bereitschaft gegangen und je nach Aufgabenstellung wäre lediglich ein Team ausgerückt. Heute lag die Sache jedoch anders.
Matti Klatt schaltete das Blaulicht aus, als sie auf den Hof ihrer Einheit fuhren. Die diensthabende Gruppe verlud schon das gesamte Equipment: Lang- und Kurzwaffen, Schusswesten, Abseilausrüstung, Sprengstoff und Funktechnik.
»Wenn alles gepackt ist, zieht ihr euch hier gleich um und stellt die Fahrzeuge in folgender Reihenfolge auf: Einsatzführer, Nahkämpfer, Präzisionsschützen und Technik. Ich renne zum Alten und frage, was los ist und wo es hingeht«, ordnete Matti an.
Dann hastete er die Treppen hinauf. Die Tür des Chefs der Diensteinheit IX stand offen. Er ging hinein und grüÃte mit einem kurzen Kopfnicken die schon bereits anwesenden Einsatzgruppenführer der anderen Nahkampfteams und die der Präzisionsschützenteams. Nachdem alle vollzählig waren, kam Major Walbe sofort zur Sache.
»Wie Sie alle wissen, liegen in der Nähe von Weimar verschiedene Armeeeinheiten der Sowjetunion. Fallschirmjäger, motorisierte Schützen und Panzerverbände. In diesen Einheiten sind die unterschiedlichsten Völkergruppen vertreten: Russen, Ukrainer, WeiÃrussen, Kosaken, Sibirier, Tschetschenen und so weiter. Bis vor ein paar Wochen gab es keinerlei Auseinandersetzungen, Anzeichen von Gewalt oder Unruhen. Die Soldaten behandelten sich untereinander alle gleich, ohne Vorurteile. In den letzten Tagen häuften sich jedoch Informationen aus Tschetschenien, dass man mit Moskau nichts mehr zu tun haben wolle. Dies sprach sich auch bis in die hier stationierten Einheiten herum. Aus allen möglichen Gründen haben sich alle Nicht-Tschetschenen in der Armee dazu entschlossen, Tschetschenen nicht mehr als gleichwertig zu betrachten. Es kam zu schweren Ãbergriffen. In einer Einheit bei Potsdam fand man an einem Fahnenmast mitten auf dem Exerzierplatz einen Tschetschenen, aufgehängt. In Nohra bei Weimar konnte gerade noch verhindert werden, dass zwei geröstet wurden. Das Lagerfeuer brannte schon. Gerade als man sie gefesselt dort hineinwerfen wollte, griff die Militärpolizei ein.«
»Unglaublich, da geht es ja zu wie im Mittelalter«, sagte Meixner, der andere Gruppenführer
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