Infantizid
ihn abhören, meistens etwas vor. Aber ich bin in keinem Film. Das hier ist die pure Realität.
Nach ein paar Minuten entschloss er sich, den Fernseher anzustellen. Zum einen lenkte es ihn ein wenig ab und zum anderen gaben ihm die Geräusche etwas Vertrautes von seinen eigenen vier Wänden zurück. Gegen Mitternacht baute er sein Bett im Wohnzimmer auf und legte sich schlafen. Den Fernseher lieà er die ganze Nacht laufen.
Am Montagmorgen, kurz nachdem er wach geworden war, wusste er zuerst nicht, wo er war. Nach ein paar Sekunden fiel es ihm wieder ein. Der Fernseher blieb eingeschaltet, als er zum Duschen ging und danach etwas aÃ. Ab und zu tat er so, als führte er Selbstgespräche. Im Prinzip war das ein Vorteil, da sie nicht wussten, dass er sie längst durchschaut hatte. Matti Klatt triumphierte innerlich, als er darüber nachdachte, und im selben Moment ging es ihm schon merklich besser. Er wollte gleich heute früh die Nummer der Omicron AG anrufen. Die Uhr zeigte kurz nach 9, der übliche Bürobeginn. Er holte sich einen Kugelschreiber und einen Block, um sich Notizen machen zu können. Dann wählte er die Nummer: 0  8 0 0 2 5 1 1 1 9 5 9. Das Rufzeichen ertönte. Nach dem fünften Rufton sprang ein Anrufbeantworter an. Eine weibliche Stimme sagte: »Herzlich willkommen bei der Omicron AG, Ihrer Informations-AG. Durch die Wahl dieser Nummer können Sie Ihr Anliegen direkt vortragen. Bitte hinterlassen Sie am Ende Ihrer Anfrage Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und aus statistischen Gründen Ihr Geburtsdatum. Die Omicron AG bedankt sich für Ihr Interesse.«
Es folgte der obligatorische Piepton. Matti Klatt überlegte blitzschnell. Das ist wirklich nur eine Nummer für mich. Hier ruft kein anderer an. Welche Firma wünscht bei einer ersten, allgemeinen Anfrage ein Geburtsdatum? Keine!
»Ich suche eine wissenschaftliche Abhandlung über die Fortpflanzung von Löwen. Dabei interessiert mich besonders das Verhalten, welches als Infantizid bezeichnet wird. Mein Name ist Matti Klatt. Ich bin am 25. November 1959 geboren und bitte um Rückruf.«
Damit legte er auf. Warum meine Telefonnummer hinterlassen? Die kannten sie doch. Sollen sie ruhig merken, dass ich das weiÃ. Schaden kann es nicht.
Erst jetzt spürte er, dass seine Hände feucht waren und er schwitzte. Das war der erste Schritt. Was passierte jetzt? Ob sich jemand meldete? Und wenn ja, wann?
Genau 33 Sekunden, nachdem Matti Klatt den Hörer aufgelegt hatte, klingelte es.
Stüpp, der in 9.500 Metern Höhe an seinem Fallschirm hing, erschauderte vor sich selbst. Was habe ich getan? Ich habe ein über 30 Tonnen schweres Flugzeug soeben in die Luft gejagt. Nicht zu vergessen die Personen, die dabei umgekommen sind, dachte er verzweifelt.
Er stieà einen langen Schrei aus.
»Was sollte ich tun? Damit habe ich unzähligen anderen Menschen das Leben gerettet! Das war ein Flugzeug voller Killer!«, sagte er laut zu sich selbst und machte ein paar lange und tiefe Atemzüge.
Es klang wie ein dumpfes Röcheln unter seiner Sauerstoffmaske. Er zitterte am ganzen Leib.
»Konzentriere dich, noch bist du nicht am Ziel. Es musste sein. Eben bist du das zweite Mal in deinem Leben gestorben.«
Er setzte sich einigermaÃen bequem in seinen Sitzgurt und holte eine Karte aus der Beintasche. Der Wind war in dieser Höhe sehr stark. Er musste aufpassen, dass sie ihm nicht aus der Hand gerissen wurde. Er schaute auf sein GPS-Navigationsgerät und übertrug in Gedanken die Längen- und Breitengrade auf den Plan. Den Standort, den er ermittelte, wollte oder konnte er nicht glauben. Zur Sicherheit übertrug Stüpp die Werte noch einmal. Es bestand kein Zweifel mehr, er befand sich circa fünf Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, und zwar östlich! Das konnte doch nur Litauen sein! Kein Dorf und keine Stadt waren in der Nähe vermerkt, nur der Grenzverlauf, in Form einer gestrichelten Linie. Als Nächstes wollte er herausbekommen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Er spuckte etwas seitlich aus und beobachtete, wohin der Speichel trieb. Glück gehabt, er kam aus Osten.
Wenn ich als Ziel Deutschland habe, muss ich diese Richtung behalten, überlegte er. Jetzt die Abdrift berechnen. Der Vortrieb dieses Flügelschirms beträgt zehn Meter in der Sekunde. Die Windstärke ungefähr 20 Meter in der
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