Infektiöse Visionen (German Edition)
war, erkannt man daran, dass der Hemdknopf offen stand und die Krawatte fehlte. Er würdigte uns keines Blickes und ließ sich auch nicht anmerken, wie sehr ihn das Klingeln und vor allem die Tatsache ärgerte, dass er als Hausherr persönlich sich in den Flur begeben und abnehmen musste, um es zu beenden.
Wir schauten zu ihm hin, als er langsam und würdig den Hörer ans Ohr führte. Für mich war es seit Monaten das erste Mal, dass ich ihn aus der Nähe sah, und wohl das erste Mal überhaupt seit unserem Streit vor einem Jahr, dass ich mich mit ihm in einem Raum aufhielt.
Meine Aufmerksamkeit schnappte hin und her zwischen diesem Bild und dem Echo des Satzes „Das Haus ist schon verkauft.“ Mit Sack und Pack.
„ Wendelin Forberig“, meldete er sich nach einem leisen Räuspern.
„ Aha.“
Er sah zu mir hoch und mir direkt in die Augen. Das erste Mal seit... Ich versuchte, den Blick zu deuten.
„ Verstehe. Das tut mir sehr leid. Ja, ich richte es aus. Danke, dass sie gleich angerufen haben.“
Er legte auf, sah dabei kurz weg und dann gleich wieder zu mir her.
„ Das war eine gewisse Sabine Senter“, sagte er zu mir, und seine Stimme klang so Vater-Sohn-mäßig als habe es nie einen Konflikt zwischen uns gegeben.
„ Du scheinst mit ihrer Tochter befreundet gewesen zu sein.“
„ Gewesen...?“, fragte ich, und meine Stimme klang kratzig.
„ Tut mir leid“, sagte er nun auch zu mir und klang sogar mitfühlend dabei. Und, kaum zu fassen, ich fühlte mich getröstet, obwohl noch gar nicht ausgesprochen war, was ihm leid tat.
„ Tut mir wirklich leid“, wiederholte er. „Sie ist vor einer halben Stunde gestorben.“
Kapitel 15: Vera trifft Wendelin
Veras Bericht
Ich habe mich entschlossen, Sebastians Aufzeichnungen an dieser Stelle fortzusetzen. Denn ich glaube, dass das, was ich mitzuteilen habe, ihm helfen kann, nach seinem Selbstmordversuch wieder ins Leben zurückzufinden und mit seinem Problem fertig zu werden. Er hält dieses Problem für unlösbar beziehungsweise offenbar nur lösbar auf dem Weg der Selbstzerstörung.
Aber ich will der Reihe nach erzählen.
Ich hatte Sebastian seit jenem Dienstag unseres Gesprächs in der Garderobe des Rosensaals nicht mehr gesehen. Dass er mein Bioladen- / Partyservice-Wendekärtchen aufheben und anrufen würde, hatte ich nicht wirklich erwartet, aber doch gehofft.
Natürlich wollte ich Myriam im Krankenhaus besuchen, aber dann erfuhr ich von meiner Freundin Bettina, deren Cousine Karola mit Myriam eng befreundet war, dass sie auf der Intensivstation lag und keinen Besuch empfangen durfte. Dann hieß es, sie habe das Schlimmste überstanden. Als ich das nächste Mal nach ihr fragte, war sie schon unter der Erde.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass Sebastian die Nachprüfung geschmissen hatte, es war beim Abi-Ball das Thema des Abends gewesen und wurde durch sein Fehlen bei der Zeugnisübergabe bestätigt.
Von seiner privaten Situation wusste ich freilich nichts. Eine Weile dachte ich: Na ja, dann sind wir beide wohl die einzigen aus unserem Jahrgang, die in der Stadt bleiben werden. Bald traten alltägliche Dinge in den Vordergrund. Es war Ende Juli, als sich unsere Wege wieder kreuzen und ineinander verschlingen sollten.
Mein Vegetarischer Partyservice war anfangs als Jux gedacht gewesen, um den Metzger in der gegenüberliegenden Straße zu ärgern. Der sah albernerweise in meinem kleinen Bioladen eine mächtigere Konkurrenz als in sämtlichen anderen Metzgereien der Stadt. Eine Kundin hatte uns zugetragen, die Gerüchte, unsere Produkte aus ökologischem Landbau seien nichts als überteuerte Supermarkt-Massenware mit abgelaufenem Verfallsdatum, würden von eben diesem Metzgermeister Bertram Ungerer gestreut.
Ich konnte das anfangs nicht nachvollziehen – bis ich begriff, dass ich nicht als Konkurrentin angefeindet wurde, sondern als Ketzerin: Schon meine Mutter war den Leuten nie geheuer gewesen, und jetzt kam auch noch ich daher, ihr nicht weniger unkonventioneller Spross, und eröffnete als Minderjährige ein Geschäft, das mit seinem Angebot in kein gewohntes Warenspektrum passte und, wie gegiftet wurde, die grün-alternativen Gammler der ganzen Stadt in das schöne bürgerliche Viertel lockte.
Weil ich wusste, dass der Metzger Ungerer auf seinen Partyservice besonders stolz war, dachte ich mir: Warum eigentlich nicht...?!
Dass ein Erfolg daraus werden könnte, hatte ich nicht erwartet, aber im Nachhinein
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