Infektiöse Visionen (German Edition)
der geöffneten Handschelle.
Kapitel 24: Die Prophezeiung
Sebastians zweiter Bericht
Natürlich war das kein Selbstmordversuch. Es war eine letzte verzweifelte Anstrengung, wieder ich selbst zu werden, und wie es schien, hatte ich Erfolg damit.
Obwohl ich einen Tag lang nichts gegessen und getrunken, in der Nacht kaum geschlafen hatte und von dem stundenlangen Kauern in der feuchten Kälte des Kellers wie gelähmt war, schaffte ich es als Erster wieder auf die Beine, und ich war auch mit Abstand der Erste, der dieser schaurigen Unterwelt im Wald entstieg und über den Absperrzaun zurück in die Freiheit kletterte.
Als ich mein Fahrrad aufhob und zum Weg schob, sah ich gerade noch Veras Kopf aus dem Spalt an der Absperrung auftauchen, bevor ich im Dickicht verschwand und den Hang hinunter zum Wandererrastplatz gelangte, wo eine für Wendelin Forberig typische Angeber-Protzkarre parkte. Ich lauschte noch ein paar Sekunden, ob mir jemand hinterher riefe, aber so oder so, ich hätte nicht gewartet, stieg auf und trat an. Die würden schon zurechtkommen.
Ziellos radelte ich durch die Wälder, stillte am Schwarzen Brünnlein meinen Durst, wärmte mich auf einer Lichtung in der Abendsonne und kehrte erst nach Einbruch der Dunkelheit in die Stadt zurück. Ich lehnte mein Fahrrad an dem mir zugewiesenen Platz an den Mülltonnen im Hinterhof an die Wand, schlich durch die Hintertür zu meiner Kammer und schloss von innen ab. Das Geld fand ich auf dem Tisch, genau so wie ich es vor meinem Entschluss abgelegt hatte. Angezogen haute ich mich aufs Bett, verdreckt und zerschunden wie ich war, und mehr weiß ich nicht mehr. Ich muss sofort eingeschlafen sein.
Es war heller Tag, als ich erwachte. Schnell stand ich auf, riss mir angewidert die verdreckten, stinkenden Klamottenfetzen vom Leib, wusch mich am kalten Wasserhahn so gut es ging, trank auf mehrere Zahnputzbecherinhalte verteilt mindestens einen Liter Wasser, bis endlich der Durst nachließ, zog frische Sachen an und nahm das Geld vom Tisch.
Der Laden war noch zu, Vera nirgends zu sehen. Durchs Lager ging ich ins Treppenhaus, stieg hinauf zu ihrer Wohnung und klingelte, wartete, klingelte noch einmal. Schließlich klopfte ich fest an die Tür. Nichts regte sich.
Ich drehte mich um und starrte die Treppe hoch ins nächste Stockwerk. Mein Puls beschleunigte sich, und meine Handflächen wurden feucht bei dem Gedanken, ihrer Mutter gegenüberzutreten.
Langsam, mit lahmen, schweren Beinen stieg ich Stufe für Stufe hinauf. Wie immer war ihre Tür offen. Dennoch klopfte ich und rief: „Frau Tangel?“
Vielleicht hatte sie einen Klienten. Aber es half ja nichts. Ich musste da durch, so schnell wie möglich. Gleich.
Obwohl ich diesmal mit guten Absichten kam, berührte es mich weit unangenehmer, zum zweiten Mal ungebeten die Schwelle ihrer Wohnungstür zu überschreiten. Nur Diebe kommen heimlich, still und leise, deshalb machte ich möglichst viel Krach, rief noch einmal „Frau Tangel!“ – und diesmal hörte ich etwas aus ihrem zum magischen Kartenlegeraum umgestalteten Wohnzimmer, Schritte. Die Tür ging auf, sie stand mir gegenüber.
Clarissa Tangel war das genaue Gegenteil von Vera. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie ihre leibliche Mutter war, ja, ich glaubte nicht einmal, dass sie überhaupt verwandt waren. Vera groß und schlank, anmutig, rotblonde Haare mit Sommersprossen, heiter und fröhlich in Gesichtsausdruck und Körperhaltung – Clarissa klein und gedrungen, fast geduckt, halslos, dickbäuchig und dürrbeinig, die Knie zum Bilderbuch-X nach innen gedrückt und die Füße nach außen.
Und während Vera – außer bei Partyservice-Aufträgen – schrillbunt und zerlumpt daherkam, ein Öko-Paradiesvogel mit meist ziemlich verrückten Frisuren, sah ich Clarissa nie anderes als in Schwarz, mit seltsamen weiten Schlabberhosen, die stets viel zu lang waren und auf dem Boden schleiften, so dass man nicht mal die Schuhe sehen konnte, in weite Wollpullover mit üppigen Rollkragen gehüllt, auch zu Hause einen schwarzen Schlapphut auf dem Kopf, unter dem nur die ausgeleierten Ohrläppchen hervorhingen, und einer riesigen, dunkel getönten Brille über dem halben Gesicht.
Sie kam mir furchteinflößend vor, und zugleich war sie mir sofort sympathisch gewesen, obwohl sie mich doch so heftig angefeindet hatte bei unserer ersten Begegnung im Hinterhof und seitdem eigentlich noch nie ein freundliches Wort an mich gerichtet.
Ich räusperte mich
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