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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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passierte.“
    „ Und?“
    „ Und? Das heißt doch, ich kann nichts machen, weil alles schon feststeht.“
    „ Ja und nein.“
    „ Aber sicher! Wenn Sie jemandem die Karten legen und ihm sagen, was passiert, dann passiert es doch auch genauso, oder? Was sehen Sie, wenn Sie in die Zukunft schauen?“
    Sie lächelte und schwieg.
    „ Was?“
    „ Also hältst du mich nun für eine Schwindlerin oder glaubst du, dass ich den Leuten helfe?“
    „ Ich würde sagen, das eine schließt das andere nicht aus.“
    „ Siehst du, und genau das ist es.“
    „ Was?“
    „ Gleich wird jemand in den Laden kommen.“
    „ Wie?“
    „ Wir reden später weiter.“
    Die Ladenglocke läutete, und ich muss in dem Moment ziemlich entgeistert ausgesehen haben.
    „ Das war keine Zukunftsvision“, sagte sie leise und schmunzelte. „Alles eine Frage des Standortes und entsprechender Formulierung.“
    Sie verschwand, und auf dem Weg vom Lager in den Laden sah ich von ihrem vorherigen Platz aus, dass sie die ganze Straße hatte überschauen können und den Kunden schlicht auf die Tür hatte zusteuern sehen. Das gruselige Gefühl, das mir beim Gespräch mit ihr über den Rücken gekrochen war, wollte trotzdem nicht so schnell verschwinden.

Kapitel 26: Einbruch bei Vera
     

    Unter dem Vorwand, ihr die Kaffeekanne zurückzubringen, stieg ich gleich nach Ladenschluss die Treppen hoch zu Clarissa. Erstmals seit ich hier hauste, war ihre Wohnungstür verschlossen. Alles Klingeln half nicht, niemand öffnete, es regte sich nichts.
    Ich stellte ihr die Kanne vor die Tür und tappte über die knarrenden Stufen vom zweiten wieder in den ersten Stock hinunter. Vor Veras Tür verweilte ich und dachte nach. Wo war sie? Inzwischen zweifelte ich daran, dass sie auf Geschäftsreise durchs Land tuckerte. Ihre Biobauern hätte sie auch anrufen können. Was war hier los? Was war gestern überhaupt los gewesen?
    Ich hatte erwartet, dass Vera allein kommen würde, um mich zu suchen und zu befreien. Dass sie diese anderen Leute angeschleppt hatte, ging mir nicht in den Kopf. Wo war die Verbindung, was hatte diese abstruse Gemeinschaft tief im Wald und tief unter der Erde in von der Welt vergessenen Gewölben zum Kampf zusammengeführt?
    Auf einmal war da wieder dieser Drang, Dinge zu tun, die man normalerweise nicht tat. Ich hatte den Schlüssel zu Veras Wohnung, er hing als Ersatzschlüssel am Geschäftsbund mit Laden-, Lager- und Hintertürschlüssel. Es hatte mir das suchtartige Vergnügen des manischen Sammlers bereitet, diese drei mir leihweise überlassenen Schlüssel meinem monströsen Bund anzuhängen, statt sie getrennt in die Tasche zu stecken. Das klirrende, klimpernde Bündel konnte ich inzwischen nirgends mehr einstecken oder verbergen, ich trug es an meiner rechten Leiste in einer Schlaufe am Hosenbund der Jeans.
    Die Verlockung war übermächtig. Schlüssel waren dazu da, sie in Schlösser zu stecken. Und jeden neuen Schlüssel, den ich meiner Sammlung einreihte, wollte ich natürlich auch benutzen. Es gab genug, von denen ich nicht wusste, woher ich sie überhaupt hatte, und die ich nie mehr würde ausprobieren können.
    Er passte. Und sperrte so anders als meine gewohnten Schlüssel. Diese variierende Erfahrung eines einheitlichen Vorgangs faszinierte mich.
    Und drinnen war ich.
    Veras Vier-Zimmer-Altbauwohnung war verdammt spießbürgerlich verglichen mit der Öko-Show, die sie öffentlich abzog. Keine Friedenstauben-Plakate an den Wänden, keine Hippie-Scheiben im Plattenständer – statt dessen Sofa, Schrankwand, Fernseher; Doppelbett und Spiegelschrank; moderne Küche mit Geschirrspüler; Leder-Chefsessel, auf Regalkante ausgerichtete Aktenordner.
    Ich hatte keine Ahnung, was ich hier überhaupt sollte, bis ich in der untersten Schublade ihres Schreibtisches, versteckt unter einem Stapel alter Zeitungen, ein kleines, in festen Karton gebundenes Buch mit privaten Aufzeichnungen fand.
     

    Genau in dem Moment, in dem ich ihre Wohnung wieder verließ und ihre Tür von außen versperrte, hörte ich unten die Haustür gehen. Und genau in dem Moment wurde ich auch wieder ich selbst. Blut schoss mir ins Gesicht, und es wurde mir zum Kotzen schlecht. Ich hatte das Büchlein mit ihren Aufzeichnungen in der Hand.
    Von unten näherten sich schleppende Schritte. Nach oben hin war Sackgasse. Mein Diebesgut zurückzubringen, war unmöglich, schon der Versuch, mit meinem krawallklirrenden Schlüsselknäuel die Tür wieder aufzusperren, hätte die

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