Inferno - Höllensturz
stürzten die beiden Nekrotiker plötzlich vorwärts, mit einem Geheul, das klang wie Fingernägel auf einer Schiefertafel.
Du kannst ihnen nichts wegnehmen, dachte Cassie hektisch, also versuch es mal umgekehrt …
»Dick! Schwabbelig! Fettgewebe!«
Das Geheul blieb in der Luft hängen, als die Vorwärtsbewegung der Kreaturen ruckartig gebremst wurde. Als Cassie wieder hinsah, waren sie bewegungsunfähig vor lauter Fett. Das Flickwerk aus toter Haut war so stark gespannt, dass es jeden Augenblick zu platzen drohte. Wülste aus Fettgewebe quetschten sich zwischen Haut und Knochen. Die Kreaturen konnten nichts weiter tun als sich wie zitternde Ballons auf dem Boden winden.
»Das war’s dann wohl«, stellte Angelese fest.
»Ekelhaft«, fügte Cassie hinzu. Aber eins war klar: Die Nekrotiker konnten sich nicht mehr fortbewegen. »Ich gebe euch einen guten Tipp: Weight Watchers«, konnte sie sich nicht verkneifen. Dann kletterten sie und Angelese über die fetten Gestalten und liefen weiter den Korridor hinunter.
Der Engel hielt den Mondstein vor sich, ihre beiden Gesichter wurden in der trüben Dunkelheit erleuchtet. »Also, wohin gehen wir jetzt?«, fragte Cassie.
»In das Hauptmagazin. Dort werden die größten Geheimnisse der Hölle verwahrt.«
»Und diese Person, nach der wir suchen, die …«
»Die Maémaè«, wiederholte Angelese den rätselhaften Namen. »Sie ist die Archivarin. Zu Lebzeiten war sie Kuratorin der Bibliothek von Alexandria, sie bewahrte die königlichen Schriften der Ptolemäer, der großen ägyptischen Herrscher, auf.«
»Und warum ist sie in der Hölle gelandet?«
»Sie hat ihre Seele an Luzifer verkauft – für die Liebe Alexanders des Großen.«
»Und, hat Alexander sich in sie verliebt?«
»Ja, aber eine Woche später ist er gestorben. Die Maémaè war natürlich nicht so begeistert davon, immerhin hatte sie ihre Seele für nichts und wieder nichts verkauft. Aber Luzifer hatte schon immer was für sie übrig, und deshalb durfte sie ihren alten Job behalten. In der Welt der Lebenden galt sie als schönste Frau von ganz Alexandria. Jetzt gilt sie als schönste Frau der ganzen Hölle.«
Was für eine Pointe , dachte Cassie.
Das Licht des Mondsteins führte sie eine Wendeltreppe hinauf, die kein Ende zu nehmen schien; doch als sie schließlich doch endete, standen sie in einem großen Gewölbe voller Bücher. Regale über Regale, Stapel über Stapel. Manche Bücher waren dick, manche winzig. Das matte Licht von unzähligen Mondsteinen ließ die Bücher aussehen wie ungleichmäßig große Ziegelsteine eines unendlichen Gebäudes.
Cassie nahm ein schwarz gebundenes Buch in die Hand. Auf dem Umschlag stand Terra Dementata , doch als sie es öffnete, waren alle Seiten leer. Auch die des nächsten Buches – Die Bekenntnisse des Judas Iscariot – waren unbeschrieben. Sie fand noch mehr Bücher mit den seltsamsten Titeln: Die Synode der Aoristen , Der Widerruf des Heiligen Johannes des Göttlichen , Das Manifest der Roten Sekte … Und alle waren leer.
»Eine magische Verschlüsselung«, erklärte Angelese. »So werden die Geheimnisse geschützt. Außerdem dient dieses System dem grundsätzlichen Zweck der Hölle: Alle Geheimnisse der Geschichte sind hier, aber man kann sie nicht herausfinden. Das lässt Luzifer nicht zu. Nur er und die Maémaè kennen sie.«
»Also sind wir deshalb hier?«, fragte Cassie. »Um Maémaè zu fragen?«
»Gewissermaßen. Wir werden sie um die Erlaubnis bitten, zu lesen.«
»Aber die Bücher sind doch alle leer!«
»Nicht, wenn sie den Dekodierzauber spricht.«
Cassie wurde langsam wütend. »Und warum sollte sie das tun? Das macht sie doch niemals! Wir vergeuden hier nur unsere Zeit. Es gibt keinen Grund für diese – diese Maémaè , uns zu helfen.«
Angelese lächelte vielsagend. »Vielleicht fällt mir ja ein Grund ein.«
Ein Gewölbe nach dem anderen durchschritten sie, vorbei an endlos scheinenden Bücherstapeln.
Stundenlang.
Cassie fühlte sich wackelig auf den Beinen, ihr dröhnte der Schädel wie das eine Mal, als sie Dope geraucht hatte. (Sie hatte es danach nie wieder versucht, weil sie einen wüsten Fressflash davon bekommen hatte.) War die Luft hier dünner als außerhalb des Gebäudes, oder was war los?
»Das ist das Wissen«, sagte der Engel, wieder einmal ihre Frage vorausahnend. »Hier gibt es so viel vergrabenes Wissen, unbekanntes, ungelesenes Wissen; es gärt gewissermaßen und setzt dabei etwas frei.«
»Die Existenz
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