Inferno - Höllensturz
sich selbst zu, wie er den Verband von seinem Kopf abwickelte. Vor dem Anblick seines mageren Selbst und der grotesken Wunde ließ er die Schultern hängen. Quer über seinen Kopf hatte man ihm einen Scheitel rasiert. Colin hatte Recht, ich sehe wirklich total behämmert aus. Aber was machte das schon? Wenn das kein Traum war, dann befand er sich jetzt in der Hölle, einer Hölle, die sich innerhalb von Tausenden von Jahren zu einer schier endlosen Metropole voller Wolkenkratzer entwickelt hatte. Und an diesem Ort war er einzigartig. In der Welt der Lebenden dagegen war er ein Nichts gewesen.
Hier hingegen, so hatte man ihm versichert, besaß er große Macht.
Doch wo war der Beweis für diese Macht? Er hatte sich nicht verwandelt. Aus seinen Augen strahlte kein blendendes Licht. Er war immer noch derselbe alte Walter, nur an einem anderen Ort.
In einer anderen Welt , verbesserte er sich.
In Colins Penthouse hatte er all die Seiten gelesen, die von den Drogensüchtigen transkribiert worden waren, und wenn Walter etwas konnte, dann war es schnell lesen und enorme Datenmengen effizient speichern. Er hatte die gesamten Beschwörungen des Luzifuge gelesen, des ersten Buches, das jemals in der Hölle erscheinen sollte. Am intensivsten hatte er sich mit den entscheidenden Kapiteln auseinander gesetzt: »Die Unheiligen Edikte des Höllenraums« und darin »Töchter und Söhne des Äthers.«
Jetzt wusste er alles. Er kannte alle Regeln.
Doch es gab keinerlei Beschreibung der tatsächlichen Kräfte eines Sohnes des Äthers. Wie manifestierten sie sich? Wenn er so mächtig war – der erste Sohn des Äthers in der Geschichte der Hölle -, warum war niemand hier, um ihn willkommen zu heißen? Er hatte erwartet, auf einen Thron gehoben zu werden. Warum verneigten sich die Lakaien der Unterwelt nicht zu seinen Füßen?
Eine von Urin besudelte Wand war mit Graffiti beschmiert: IST DOCH ALLES SCHEISSE HIER und DIE HÖLLE IST DAS ALLERLETZTE.
Kaum erkennbare Schatten, die eigentlich nur Ratten sein konnten, huschten in der Dunkelheit vorbei, und Spritzen knirschten unter seinen Turnschuhen. Walter schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist das doch Detroit«, murmelte er. »Offenbar hält Luzifer nicht besonders viel von Altstadtsanierung.« Dann entdeckte er noch weitere Graffitisprüche – FLEISCHKLÖSSE UND BLUTIGE FRESSEN – und schüttelte wieder den Kopf. Die letzte Kritzelei, die ihn anstarrte, lautete: CANDICE LIEBT WALTER.
Missmutig ging er weiter.
Allmählich enthüllte sich ihm die wahre Natur der Stadt. Über der schmalen Gasse konnte er den Himmel erkennen, der eine Farbe wie dunkles Blut hatte. Er sah einen schwarzen Sichelmond, der viel größer aussah als der Mond, der um die Welt der Lebenden kreiste. Feuer knisterten unter den Kanalgittern und seltsame Gesichter – eindeutig nicht menschlich – beäugten ihn durch trüb beleuchtete Fenster. Doch Walter hatte keine Angst. Warum sollte er?
Ich bin ein Sohn des Äthers.
Die Einzelheiten seines Wegs hierher kamen ihm wieder in den Sinn. Dieser Ort südlich von St. Pete, Der Wall genannt, ein lokales Wahrzeichen. Die Transkriptorin aus Colins Wohnung hatte ihm einen Zettel mit der Wegbeschreibung gegeben.
Der Wall war ein Totenpass, und seit er die Transkriptionen gelesen hatte, wusste er, was das bedeutete. Er war einfach nur über den Wall gelaufen. Dann war alles für einen Moment schwarz geworden, und er hatte einen komischen Druck auf den Schläfen verspürt. Aber schon wenige Schritte später war er hier gewesen.
Durch den Totenpass zu gehen, hatte ihn von einer Welt in eine andere gebracht, und jetzt war er hier. In der Stadt. In der Mephistopolis.
In der Hosentasche bewahrte er den polierten Onyx auf, um der letzten Instruktion seines toten Bruders zu folgen. Er würde seine sichtbare Lebenskraft abschwächen. Spürbar erwärmte er sich in seiner beigen Stoffhose, und obwohl er es nicht wirklich verstand, hielt er es für besser, einfach zu gehorchen. Er war aus einem bestimmten Grund hier: um Candice zu suchen. Er konnte sie in der Welt der Lebenden nicht haben, aber als Sohn des Äthers würde er sie bekommen. Sie würden für alle Ewigkeit zusammen sein, als Liebende.
CANDICE LIEBT WALTER.
Armer Walter …
Bizarre Straßenschilder hingen über seinem Kopf: SCHÄDELTRAUMA-ALLEE, GESCHWÜR-STRASSE, TRIPPER-BOULEVARD. Wie? Keine Lindenstraße? Er ging jetzt auf dem Bürgersteig, und die Schwefellaternen färbten den Asphalt ein, als sei er mit
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