Inferno - Höllensturz
vergessen, sich den Wecker zu stellen. Ihr Kurs hatte länger gedauert. Sie hatte in der Bibliothek die Zeit vergessen. »Könntest du sie noch mal anrufen, bitte?«, fragte Walter. »Sie hat bestimmt gerade geduscht.« Inzwischen war das Mädchen an der Rezeption wütend. »Walter, Himmelherrgott. Candice kann ja wohl schlecht seit ZWEI STUNDEN unter der Dusche stehen!«
»Bittebitte.«
»In Ordnung, pass mal auf. Ich werde noch ein einziges Mal anrufen, und wenn sie dann nicht drangeht, verschwindest du, okay?«
»Okay.« Walter willigte ein, da er tief in seinem Herzen wusste, dass Candice ihn niemals so enttäuschen würde. Sie duscht nur lange , davon war er überzeugt. Sie ist da .
»Zehntes Klingeln«, teilte das Mädchen mit. »Sie ist nicht da. Und jetzt geh nach Hause!«
Walter war am Boden zerstört, doch wie versprochen verschwand er. Gut, dass er nicht hörte, was das Mädchen in den Telefonhörer sprach, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Gott sei Dank, endlich ist er weg. Schöne Grüße an Bucky, Candice.«
Walters Niedergeschlagenheit verwandelte sich nach und nach in Selbstbetrug. Sie war bestimmt nur müde vom Unterricht. Morgen ruft sie an und entschuldigt sich. Ganz sicher! Sie liebt mich. Gegen Abend schlenderte er ziellos über den Campus. Zwei Sportler in Football-Jacken liefen an ihm vorbei, ohne ihn überhaupt zu bemerken. »Hast du’s Candice schon mal besorgt?«, fragte der eine, und der andere antwortete nach einem kurzen Kichern: »Vor ein paar Tagen, nach der Abschlussparty. Scheiße, Mann. Die hab ich nicht nur gefickt, ich hab sie gestopft wie einen Truthahn.«
»Was für eine Frau!«
»Sie ist wie eine Maschine, die man nicht abstellen kann. Gib ihr ein Bier, und sie geht ab wie ein Düsenjet!«
Walter machte ob dieser unflätigen Worte ein finsteres Gesicht; die sprachen ja wohl nicht über Candice – nicht über seine Candice. Ein anderes Mädchen namens Candice, eine Sportlerschlampe. Als Walter am Campus Drive um die Ecke bog und zurück zu seinem eigenen Wohnheim gehen wollte, entdeckte er das Blaulicht. Notarzt , dachte er sofort. Dann bemerkte er Polizisten und einen Abschleppwagen. Jemand in einem goldfarbenen Dodge Colt war am Rondell über eine rote Ampel gefahren. Walter sah genauer hin, dann dachte er, O nein …
Ein Fußgänger war auf dem Fußgängerüberweg überfahren worden, zweifellos ein Philosophiestudent. Spiralblöcke flatterten auf der Straße herum neben Sartres Geschlossene Gesellschaft und Der Begriff Angst von Sören Kierkegaard. Ein Mann mit Brille und einem gepflegten Bart lag auf einer Bahre, sein Genick war ganz offensichtlich gebrochen. Tot , wie Walter erkannte. Er bemerkte ein merkwürdiges Tattoo am linken Arm des Mannes: DIE ERZÄHLKUNST IST MEIN FEIND. Stimmt nicht , dachte Walter. Rücksichtslose Autofahrer sind dein wahrer Feind. Die zwei Sanitäter an der Bahre machten nicht einmal einen Wiederbelebungsversuch. Der Wagen war frontal in den Fahnenmast in der Mitte des Rondells geprallt, ein Campus-Polizist legte dem dicken, betrunkenen Fahrer gerade Handschellen an. »Verdammte Fußgänger, verflucht, der Typ stand mitten auf der Straße!«
»Genau, weil er nämlich grün hatte, du Arschloch«, sagte der Polizist. »Gott sei Dank haben wir die neuen Gesetze. Fünf Jahre ohne Bewährung für fahrlässige Tötung bei Trunkenheit am Steuer.«
Während die Sanitäter auf ihren Klemmbrettern herumkritzelten, starrte Walter weiterhin den Toten auf der Bahre unverwandt an. Die Augen waren völlig verdreht, die Zunge hing aus dem offenen Mund. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift PIL: THIS IS WHAT YOU WANT, THIS IS WHAT YOU GET. Das ist, was du willst, das ist, was du kriegst.
»Verdammt, der Scheißtyp geht auf den Bullen los«, stellte einer der Sanitäter fest.
Walter sah hinüber. Der dicke Fahrer des Unfallwagens hatte nur eine Hand in Handschellen; mit der anderen holte er gerade aus, um dem Polizisten einen Schlag zu versetzen. Dabei schrie er: »Ich hab bloß ein paar Bier getrunken! Ich geh doch nicht für fünf Jahre in den Knast!« Und – ZACK! – traf er den Ordnungshüter mit der losen Handschelle mitten ins Gesicht.
»Halt das mal kurz, Kleiner«, sagte der Sanitäter und drückte Walter das Klemmbrett an die Brust. Walter nahm das Brett erschrocken entgegen, und die beiden Ersthelfer rannten zu dem Dicken, um dem Polizisten zu Hilfe zu kommen. Das Handgemenge war kurz, doch aus irgendeinem Grund
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