Inferno - Höllensturz
kommst, weil sie wissen, dass du zu mächtig bist, deshalb veranstalten sie diese räumlichen Verschmelzungen …«
»Ich verstehe das nicht«, schluchze Cassie.
»Sie wollen eine Verschmelzung mit dieser Klinik erreichen, und wenn sie das schaffen, dann nehmen sie dich gefangen. Luzifer will dich entführen und deine Ätherkräfte für etwas benutzen, das teuflischer ist als alles, was jemals zuvor getan wurde. Und deshalb muss ich dich hier rausholen. Darum geht es bei der ganzen Sache, Cassie – um dich! Sie sind hinter dir her!«
Das Umbraphantom genoss seine Aufgabe in vollen Zügen und zog Angelese mit seinen Krallen die Haut ab. Cassie wusste nicht, was sie tun sollte, fieberhaft überlegte sie. Konnte der Schatten ohne Licht seine Form behalten? Nackt rannte sie zum anderen Ende des Raums, leuchtend rote Fußabdrücke hinterlassend. Lichtschalter! Wo ist der verdammte Lichtschalter? Doch sie konnte ihn nicht finden. Immer noch schrie Angelese, sie konnte jetzt nicht mehr sprechen. Genüsslich quälte das Wesen sie mit seinen Krallen. Cassie schnappte sich einen Wischmopp aus dem Wandschrank, rannte zurück und fing an, die Neonröhren mit dem Stiel zu zertrümmern. Abschnitt für Abschnitt senkte sich Dunkelheit über den Raum. Der Schatten jaulte und funkelte sie über die pechschwarze Schulter hinweg an. Als Cassie endlich die letzte Lichtröhre zerschmettert hatte, löste sich das Wesen allmählich auf.
Und mit ihm das blutende, sich windende Bild von Angelese.
KAPITEL SECHS
I
Warum sollte Walter so etwas träumen, so etwas Grauenhaftes ?
Er stand an einer Straßenecke in einer Stadt, doch diese Stadt war jenseits seiner Vorstellungskraft. Der Mitternachtshimmel war rubinrot, die tief hängende Mondsichel schwarz. Das konnte er allerdings nur erkennen, wenn er den Kopf in den Nacken legte und steil nach oben sah, denn die Gebäude, die die Straße säumten, mussten Hunderte und Aberhunderte von Stockwerken haben. Noch nie hatte er solche Wolkenkratzer gesehen. Baut man überhaupt so hohe Häuser? , fragte er sich selbst.
»Hier schon«, sagte ein kleines Mädchen.
Sie hüpfte die Straße herunter und lächelte ihn an. Walter kippte fast um. Ihre Zöpfe flogen beim Hüpfen durch die Luft. Sie trug schwarze Schnürschuhe und weiße Söckchen, dazu ein knallrot-weiß kariertes Kleid. Tiefe Falten zogen sich über ihr graues, verschrumpeltes Gesicht. Das Mädchen war mumifiziert.
Sie spielte Himmel und Hölle, doch die Kästchen wurden nicht von Kreidestrichen begrenzt, sondern von langen, eigenartigen Knochen. Das Mädchen konnte nicht älter als sieben oder acht sein. »Du bist in der Mephistopolis, in der Hölle«, erklärte sie ihm. »Das ist Pogrom Park und du hast einen Traum.«
Ein Traum , dachte er. Aus irgendeinem Grund war diese Information tröstlich. Es bedeutete, dass dieser merkwürdige Ort nicht wirklich existierte. Etwas flog über seinen Kopf hinweg. Eine Taube, war sein erster Gedanke, doch dann sah er genauer hin und stellte fest, dass es eine Art geflügeltes Nagetier war. War das etwa ein abgetrennter menschlicher Penis, den es da zwischen den Zähnen hielt?
Das kleine Mumienmädchen hüpfte weiter, die Kästchen führten die gesamte Straße hinunter. »Auf Wiedersehen, Walter. Dein Schicksal wartet auf dich.«
Die Bemerkung riss ihn aus seinen Gedanken. »Was?«, rief er ihr hinterher. »Was hast du gesagt?«
»Nimm dein Schicksal an …« Sie hüpfte weiter und verschwand um die Ecke.
Walter bemerkte ein verschmiertes Glasschild: NEUANKÖMMLINGSTREFF. WILLKOMMEN IN DER POGROMPARK-GALERIE! Er schlenderte hinein – was sollte er sonst schon tun? Der lange, leere Raum mit den glänzenden Fototapeten erinnerte ihn an eine Touristeninformation, in der die heimischen Sehenswürdigkeiten angepriesen werden. Eins nach dem anderen betrachtete er die Fotos der wichtigsten Wahrzeichen der Hölle:
Die Industriezone mit ihren dreißig Meter hohen Wänden aus Eisenträgern. In diesem gewaltigen Komplex lagen das Zentrale Elektrizitätswerk der Stadt, die Gießerei und der Schlackehochofen, die Fleischprozessoren und die Knochenmühlwerke. Ein Foto zeigte Tausende bettelarmer Arbeiter, die Fleisch schnitten. Endlose Fließbänder transportierten die Stücke in die Verwertungsanlagen, um sie dort weiter zu Nahrung zu verarbeiten; andere Fließbänder brachten die Knochen in die Mühlwerke, um daraus Ziegelsteine und Zement herzustellen. Im Treibstoffdepot transportierten Trichter auf
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