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Inferno - Höllensturz

Inferno - Höllensturz

Titel: Inferno - Höllensturz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Lee
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hören, fühlte sich an, wie unter einer riesigen Steinmauer begraben zu werden. »Soll ich es also tun?«, fragte er jetzt. »Soll ich mich umbringen?«
    »Ich kann dir keinen Rat geben.«
    War das ein Grollen, was er da hörte? Irgendein merkwürdiges Geräusch schien sich hinter Namenlos anzukündigen.
    Sie sprach jetzt hektischer. »Nein, die Zukunft ist nicht veränderbar, Walter. Ob es dir gefällt oder nicht, du wirst dein Schicksal annehmen müssen.«
    Mein Schicksal annehmen , wiederholte er für sich die geheimnisvollen Worte. Jeder erzählte ihm das. Doch soweit er das überblickte, bestand sein Schicksal einzig und allein darin, sich heute Nacht in seinem Wohnheimzimmer den Schädel wegzublasen.
    Die Augen der Wahrsagerin weiteten sich, und sie lächelte ihn fröhlich an. »Sie haben mich.«
    »Was?«
    »Wir sehen uns bald.« Und dann wurden die alten braunen Backsteine hinter ihr durchbrochen; einige davon fielen Walter beinahe auf den Kopf. Er machte einen Satz rückwärts, das Herz schlug ihm bis zum Hals. Durch die Wand hindurch packten zwei Gestalten Namenlos. Sie schrie nicht; sie reagierte eigentlich praktisch gar nicht. Die beiden menschenähnlichen Wesen, die sie gepackt hatten, schienen fast drei Meter groß zu sein. An Stelle von Köpfen hatten sie ungeformte Fleischklumpen, und die Hände waren primitiv modelliert. Sie sahen aus wie von Kindern geknetete Lehmpuppen. Je genauer Walter hinsah, desto mehr schien es ihm allerdings, als wären die Wesen tatsächlich aus Lehm. Sie hatten eine graubraune Farbe und rochen wie ein Flussbett bei Niedrigwasser. Einer hielt Namenlos hoch, indem er seine fetten Armen um ihre Schultern schlang. Der andere schraubte ihren Kopf herum und herum, bis …
    Knirsch
    … er abging.
    Der Kopf wurde in einen Mülleimer geworfen, und den Körper ließen sie mitten auf der Straße liegen, wo sich sofort eine Horde Greife darauf stürzte. Fröhlich kreischten die riesigen Vögel und nagten den Leichnam von Namenlos innerhalb von wenigen Augenblicken säuberlich ab.
    Die beiden Golems sahen Walter mit vollkommen ausdruckslosen Mienen an. Dann trampelten sie davon.
    Wir sehen uns bald , waren die letzten Worte der Frau gewesen. Er betrachtete ihre Knochen auf der Straße. »Wohl kaum«, murmelte er und rannte weg. Erst in diesem Moment konnte er das Straßenschild an der Ecke richtig erkennen: GREIFENFUTTERALLEE.

II
    Bordeaux, 1348 A.D.

    Man nannte ihn bei vielen Namen, und sie waren voller Widersprüche. Luzifer beispielsweise bedeutete »Licht des Morgens«; daher rief man ihn häufig auch den Morgenstern. Weitere Namen waren Eosphoros, Iblis, der Scheitan. Doch die neuerdings beliebteste Bezeichnung war Satan. Einst, vor Äonen, war er der Träger des Lichts gewesen. Nun war er der Träger der Dunkelheit.
    Er mochte die Dunkelheit sehr.
    »Gut, gut«, flüsterte er vor sich hin. Er spähte hinter dem schwankenden Leichenhaus hervor auf die Dorfstraße. Durch die grob behauenen Holzplanken, die dem Gebäude als Wände dienten, konnte er ein Stöhnen hören. Sie warten nicht mal, bis sie tot sind, bevor sie sie hineinwerfen , dachte das ehemalige Licht des Morgens. Der Gedanke entzückte ihn. Jedes Dorf hatte mehrere Leichenhäuser – in Zeiten wie diesen. Manchmal war es auch einfach nur eine Grube oder ein eingezäuntes Ödland des Todes. Die kultivierten Gemeinden errichteten überdachte Bauten, und Bordeaux hatte inzwischen einige davon. Der Gestank, der durch die Planken drang, war jenseits menschlicher Vorstellungskraft, selbst in diesen unsauberen Zeiten. Der bazillus pestis und der bazillus pneumonitis hatten eine wunderschöne schwarze Welle des Todes über Europa gebracht. Er hoffte, der Gestank verfaulenden Fleischs würde sich weit genug erheben, um Gott selbst zu beleidigen.
    »Gut, gut«, flüsterte er wieder. Verzückt betrachtete er die Szenerie, wie ein Kind, das heimlich von der Treppe aus den Weihnachtsbaum bestaunt. Männer in Kapuzen und Masken karrten noch mehr Körper zum Leichenhaus und kippten sie dort aus. Das einzige Geräusch war das unablässige Summen der Fliegen bei ihrem Festmahl.
    Ein Oni stand neben ihm, wohl zu seinem Schutz. Nicht, dass der Iblis des Schutzes bedurfte; doch seine Generäle hatten darauf bestanden. »Ihr könntet befleckt werden, Herr«, hatte ihm einer mit Namen Sherman gesagt. Doch Satan war unsterblich.
    »Von der Pest?«, fragte er.
    »Die Dörfler könnten euch angreifen«, ermahnte Sherman. Unsterblichkeit war

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