Inferno - Höllensturz
aber nicht alle. Die meisten Gefallenen Engel können sich in die Welt der Lebenden inkarnieren, aber dazu braucht man eine Menge kabbalistische Energie – und außerdem eine Erlaubnis – und natürlich können sie nie in den Himmel gelangen. Luzifer taucht regelmäßig auf der Erde auf. Das neueste Gerücht besagt, dass er zu seiner Unterhaltung in vergangene Zeiten zurückreist, um sich noch einmal die schlimmsten Gräuel und Tragödien der Geschichte anzusehen. Damit vertreibt er sich die Zeit, wenn ihm langweilig ist.«
»Zeitreisen? Wie funktioniert denn das?«
»Durch etwas, was er vor langer Zeit Gott gestohlen hat. Man nennt den Vorgang Astrale Retrogation. Eine Art räumliche Verschmelzung, insofern, als dass sie nur kurze Zeit anhält. Mehr darf ich dir darüber nicht erzählen.«
»Aber wenn er zurück in die Vergangenheit reisen kann, heißt das, er kann sich auch in der Zeit vorbewegen? In die Zukunft reisen?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
Unzählige Fragen schwirrten Cassie plötzlich durch den Kopf. »Werden Engel geboren oder geschaffen?«
»Darf ich nicht sagen.«
»Was ist mit Gott, ist er auch ein Engel?«
Angelese lächelte durch den Wasserstrahl. »Darf ich auch nicht sagen.«
Hm, sehr interessant. Aber dann tauchte schon die nächste Sorge auf. Sadies Bemerkung vorhin war Cassie peinlich. Sicherlich würde die Aufseherin R.J. Bescheid sagen, der sie dann für noch verrückter halten würde. Doch genau diesen Eindruck wollte sie ihm eigentlich nicht vermitteln. Trotzdem betrachtete sie weiterhin den Engel unter dem Duschstrahl; das sanft zischende Bild hatte etwas Zauberhaftes.
Wasser lief ihr über die bloßen Arme; das lange Gewand klebte an den Beinen. Durch den dünnen Stoff glaubte Cassie, dunklere Streifen zu erkennen, und dann fiel es ihr wieder ein.
»Hast du nicht gesagt, du hättest Tattoos?«
»Willst du sie sehen?«
»Klar.«
Angelese legte den Kopf seltsam schief. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.«
»Na gut …«
Angelese streifte das Gewand über die Schultern und ließ es auf die Knöchel fallen. Plötzlich war sie völlig nackt.
Cassie gefror der Atem.
»Ich hätte dir vielleicht vorher erzählen sollen, dass es keine echten Tätowierungen sind …«
O nein, das waren sie eindeutig nicht. Kreuz und quer überzogen Striemen die weiße Haut des Engels, vom Hals bis zu den Knöcheln, immer vier nebeneinander. Manche waren blassrosa, andere dunkelrot. Der Großteil ihres Körpers war netzartig davon bedeckt.
Cassie Stimme wurde rau. »Das sind Narben, richtig?«
Angelese nickte. Sie drehte sich um und zeigte ihren Rücken, der noch schlimmer gezeichnet war. »Das sind die Spuren von Krallen.«
»Siehst du das hier?« Der Engel fuhr mit dem Finger nach oben zu den kleinen festen Brüsten: vier frische Kratzspuren voller verschorften Blutes. »Die habe ich letzte Nacht bekommen, als ich dir von dem anderen Totenpass erzählt habe. Das war die Strafe für den Regelverstoß.«
»Das hat dir dieses Ding angetan«, sagte Cassie. »Dieses …«
»Umbraphantom.« Angelese sah auf den verdichteten Schatten hinab, der sich um ihre Füße zu kauern schien. »Ein bösartiger Scheißkerl, aber das gehört nun mal dazu. Alle Caliginauten haben so einen, wenn sie auf der Erde sind. Das ist der Preis, den wir bezahlen müssen.« Sie verspannte sich und berührte sanft die frischen Wunden. »Es tut sehr weh. Das kannst du nicht verstehen. Engel haben gesteigerte Sinneswahrnehmungen. Wir fühlen alles viel detaillierter und intensiver – besonders Schmerz.«
Cassie konnte es nicht fassen. Sogar die Unterseite von Angeleses Brüsten war verletzt, als trüge sie einen BH aus Narben. »Es passiert nur, wenn du etwas sagst, was du nicht sagen darfst?«
»Ja«, erklärte Angelese. »Oder wenn ich etwas tue, was ich nicht darf.«
Cassie fiel ein, dass Gefallene Engel in der Mephistopolis unsterblich waren. »Kannst du sterben?«
»Im Himmel nicht, in der Hölle auch nicht. Aber hier?« Angelese lächelte verlegen. »Ja, hier kann ich sterben. Wenn ein Engel in der Welt der Lebenden den Löffel abgibt, tritt er mit einem großen Knall ab. Und genau darüber müssen wir sprechen.«
Als sie das ausgesprochen hatte, geschah etwas. Cassie war sich nicht ganz sicher, aber der Druck im Raum schien sich zu verändern. Obwohl sie noch nass von der Dusche war, stellten sich ihre winzigen Nackenhärchen auf. Dann bemerkte sie den Schatten zu Angeleses Füßen.
Er streckte sich,
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