Inferno
Handy. »›Chthonisch‹ heißt ›unter der Erde‹.«
»Das ist korrekt – zumindest teilweise«, erklärte Langdon. »Das Wort hat auch eine historische Bedeutung, die mit Mythen und Ungeheuern in Verbindung steht. Die chthonischen Monster bilden eine eigene Kategorie: die Erinyen, Hecate und Medusa zum Beispiel. Man nennt sie ›chthonisch‹, weil sie in der Unterwelt leben und mit der Hölle assoziiert werden.« Langdon hielt kurz inne. »In den Sagen heißt es, wenn sie aus der Erde kommen, bringen sie Tod und Chaos in die Welt der Menschen.«
Darauf folgte ein langes Schweigen, und Langdon konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie alle das Gleiche dachten. Dieses chthonische Monster … das kann nur Zobrists Pathogen sein …
Denn hier im Dunkel lauert das chthonische Monster
In den blutroten Wassern
Der Lagune, in der sich nie spiegeln die Sterne.
»Wie auch immer«, sagte Langdon schließlich, »wir suchen offensichtlich nach einem unterirdischen Ort, was zumindest die letzte Zeile des Gedichtes erklären würde, die ›Lagune, in der sich nie spiegeln die Sterne‹.«
»Das klingt einleuchtend«, bemerkte Sienna und hob den Kopf. »Wenn eine Lagune unter der Erde liegt, dann können sich auch keine Sterne darin spiegeln. Aber gibt es in Venedig unterirdische Lagunen?«
»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Langdon. »Aber in einer Stadt, die auf Pfählen über Wasser steht, sind die Möglichkeiten endlos.«
»Was ist, wenn diese Lagune irgendwo drinnen liegt?«, fragte Sienna plötzlich und ließ den Blick von Langdon zu Ferris wandern. »In dem Gedicht ist von dem ›Dunkel‹ im ›Versunk’nen Palast‹ die Rede. Robert, vorhin haben Sie gesagt, es gibt eine Verbindung zwischen dem Dogenpalast und dem Markusdom, stimmt das? Wenn man beide Bauwerke als ein Gebäude betrachtet, finden wir vieles wieder, wovon im Gedicht die Rede ist: ein Mouseion der Heiligen Weisheit, ein Palast, die Dogen … und alles liegt in beziehungsweise auf der Lagune von Venedig.«
Langdon dachte über ihre Worte nach. »Sie glauben, der ›Versunkene Palast‹ bezieht sich auf den Dogenpalast?«
»Warum nicht? Das Gedicht fordert uns auf, im Markusdom niederzuknien und dann dem Geräusch von ›tropfendem Wasser‹ zu folgen. Vielleicht führt dieses Geräusch zum Dogenpalast nebenan, und womöglich gibt es dort ein überflutetes Kellergeschoss.«
Langdon war schon viele Male im Dogenpalast gewesen und kannte dessen Größe genau. Im Grunde war der Palast ein weitläufiger Komplex aus mehreren Gebäuden, in dem sich ein großes Museum befand, ein wahres Labyrinth ehemaliger Verwaltungsbüros, Privatgemächer und Höfe sowie ein gewaltiger Kerker, der sich gleich auf mehrere Gebäude verteilte. »Da könnten Sie Recht haben«, stimmte er zu. »Aber wenn wir den Palast ohne Strategie durchsuchen, könnte das Tage dauern. Ich schlage vor, wir befolgen genau das, was im Gedicht steht. Zuerst gehen wir in den Markusdom, finden das Grab oder die Statue des verräterischen Dogen und knien nieder.«
»Und dann?«, fragte Sienna.
»Dann«, seufzte Langdon, »beten wir wie der Teufel, dass wir ›tropfendes Wasser‹ hören … und dass es uns irgendwo hinführt.«
In der darauffolgenden Stille erschien vor Langdons geistigem Auge das Gesicht von Elizabeth Sinskey. Es wirkte so besorgt wie in seiner Vision, in der sie ihm über das Wasser hinweg zugerufen hatte: Die Zeit drängt. Suche und finde! Er fragte sich, wo Sinskey jetzt wohl war … und ob es ihr gutging. Die Soldaten in Schwarz wussten inzwischen mit Sicherheit, dass Langdon und Sienna die Flucht gelungen war. Wie lange dauert es wohl, bis sie uns wieder aufspüren?
Als Langdon den Blick erneut auf das Gedicht richtete, drohte ihn die Müdigkeit zu übermannen. Dann las er noch einmal die letzte Zeile … und plötzlich kam ihm ein Geistesblitz.
Die Lagune, in der sich nie spiegeln die Sterne .
Vermutlich war es nicht von Bedeutung, dennoch beschloss er, seine Begleiter einzuweihen. »Mir ist gerade noch etwas eingefallen.«
Sienna hob den Blick.
»Die drei Teile von Dantes Göttlicher Komödie«, fuhr Langdon fort. » Inferno, Fegefeuer, Paradies. Sie enden alle mit exakt dem gleichen Wort.«
Sienna sah ihn überrascht an.
»Und was für ein Wort ist das?«, fragte Ferris.
Langdon deutete auf das Ende des Textes. »Mit dem gleichen Wort, mit dem auch Zobrists Text endet: ›Sterne‹.« Er ergriff Dantes Totenmaske und deutete auf die
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