Inferno
über der alten Hauptstadt des Byzantinischen Reiches hereingebrochen. Überall an den Ufern des Marmarameeres erwachten Flutlichter zum Leben und erhellten eine Skyline aus glitzernden Moscheen und schlanken Minaretten. Es war die Stunde des akşam , und aus Lautsprechern in der gesamten Stadt erschallte der adhān , der Gebetsruf, der mit den Worten endete:
Lā ilvha illā ’llāh.
Es gibt keinen Gott außer Allah.
Während die Gläubigen in die Moschee eilten, kümmerte das den Rest der Stadt wenig. Ausgelassene Studenten tranken Bier, Geschäftsleute machten Profit, Händler verkauften Gewürze und Teppiche, und Touristen schauten dem Treiben staunend zu.
Es war eine geteilte Welt, eine Stadt der Gegensätze: religiös – säkular, alt – modern, Ost – West. An der Grenze zwischen Europa und Asien gelegen, stellte diese zeitlose Stadt im wahrsten Sinne des Wortes eine Brücke dar zwischen der Alten Welt … und einer Welt, die noch viel älter war.
Istanbul.
Zwar war Istanbul nicht länger die Hauptstadt der Türkei, doch über Jahrhunderte hinweg war die Stadt das Epizentrum dreier vollkommen unterschiedlicher Reiche gewesen: des Römischen, des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches. Aus diesem Grund ist Istanbul der ohne Zweifel historisch vielseitigste Ort der Welt. Vom Topkapi-Palast bis zur Blauen Moschee und zur Burg der Sieben Türme wimmelt es in dieser Stadt von Geschichten über Schlachten, Ruhm und Niederlagen.
An diesem Abend setzte hoch über den Massen in den Straßen eine Transportmaschine vom Typ C-130 zur Landung auf dem Atatürk-Flughafen an, dicht gefolgt von einer Sturmfront. Angeschnallt auf einem Sitz zwischen Pilot und Copilot, blickte Robert Langdon durch die Cockpitscheibe und genoss es, endlich ein Fenster zu haben.
Er fühlte sich etwas frischer, nachdem er gegessen und im hinteren Teil des Flugzeugs fast eine Stunde lang gedöst hatte.
Jetzt sah Langdon rechts von sich die Lichter der Stadt: eine funkelnde Halbinsel in Form eines Horns, das in die Finsternis des Marmarameeres hineinragte. Das war die europäische Seite, die von ihrer asiatischen Schwester durch ein schmales, dunkles Band getrennt wurde.
Der Bosporus .
Auf den ersten Blick sah der Bosporus wie eine breite Kluft aus, die Istanbul in zwei Teile teilte. Tatsächlich – und das wusste Langdon – war er jedoch die wirtschaftliche Lebensader der Stadt. Durch den Bosporus hatte die Stadt nicht nur ein, sondern zwei Ufer, und er ermöglichte es Schiffen, vom Mittelmeer ins Schwarze Meer zu fahren.
Als das Flugzeug durch eine Nebelschicht sank, suchte Langdon die Skyline der Stadt nach dem auffälligen Gebäude ab, wegen dem sie hergekommen waren.
Der Ort von Dandolos Grab .
Wie sich herausgestellt hatte, war Enrico Dandolo – der verräterische Doge von Venedig – nicht in Venedig beerdigt worden, sondern im Herzen der befestigten Stadt, die zu erobern er 1202 ausgezogen war … der Stadt unter ihnen. Passenderweise war Dandolo im spektakulärsten Schrein beigesetzt worden, den die eroberte Stadt zu bieten hatte, in einem Gebäude, das bis heute als Kronjuwel des Landes galt.
Die Hagia Sophia .
Erbaut im Jahre 537 n. Chr., war die Hagia Sophia bis 1204 eine orthodoxe Kathedrale gewesen. Dann hatten Enrico Dandolo und die Ritter des vierten Kreuzzugs die Stadt erobert und die Kirche in eine katholische verwandelt. Später, im fünfzehnten Jahrhundert, nach der Einnahme der Stadt durch Sultan Mehmed den Eroberer, war sie zu einer Moschee umgestaltet worden. Erst 1935 wurde das Gebäude säkularisiert und in ein Museum umfunktioniert.
Ein vergoldetes Mouseion der Heiligen Weisheit , dachte Langdon.
Diese Umschreibung passte genau, denn die Hagia Sophia enthielt noch mehr Gold als der Markusdom, und ihr Name bedeutete wörtlich übersetzt ›Heilige Weisheit‹.
Langdon stellte sich das kolossale Gebäude vor und versuchte zu begreifen, dass irgendwo darunter, in einer finsteren Lagune, ein Plastikbeutel im Wasser schwebte, der sich schon bald auflösen und seinen tödlichen Inhalt auf die Menschheit loslassen würde.
Langdon betete, dass sie noch nicht zu spät kamen.
»Die unteren Stockwerke des Gebäudes sind mit Wasser vollgelaufen«, hatte Sinskey gesagt und Langdon bedeutet, ihr zum Arbeitsbereich im Heck des Flugzeugs zu folgen. »Sie werden nicht glauben, was wir herausgefunden haben. Kennen Sie den Dokumentarfilmregisseur Göksel Gülensoy?«
Langdon schüttelte den
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