Inferno
Klienten Informationen an die Massenmedien weiterleitete, doch etwas an der Bitte dieses Mannes beunruhigte den Provost. »Am selben Tag?«, fragte er und deutete auf das rot eingekreiste Datum in seinem Kalender.
»Ganz recht. An genau diesem Tag, und nicht einen Moment früher.«
»Verstanden«, sagte der Provost. Er versah den Stick mit einem Aufkleber und notierte die entsprechenden Informationen darauf. »Das wäre dann alles?« Er erhob sich in der Absicht, das Treffen zu beenden.
Sein Klient blieb sitzen. »Nein. Da wäre noch eine letzte Sache.«
Der Provost setzte sich wieder.
Die Augen des Klienten wirkten jetzt geradezu gehetzt. »Sobald Sie dieses Video abgeliefert haben, werde ich sehr berühmt sein.«
Du bist schon berühmt , dachte der Provost beim Gedanken an die beeindruckende Vita des Mannes.
»Ihnen kommt ein Teil des Verdienstes dafür zu«, fuhr der Klient fort. »Sie haben mir ermöglicht, mein Meisterwerk zu erschaffen … ein Opus, das die Welt verändern wird. Sie dürfen stolz sein auf Ihre Rolle.«
»Was auch immer das für ein Meisterwerk ist, Sir«, sagte der Provost mit wachsender Ungeduld. »Es freut mich, dass Sie die erforderliche Privatsphäre hatten, es zu erschaffen.«
»Zum Zeichen meines Danks habe ich Ihnen ein Abschiedsgeschenk mitgebracht. Ein Buch.« Wieder griff er in die Aktentasche.
Der Provost fragte sich, ob dieses Buch vielleicht das geheime Meisterwerk war, an dem der Klient die ganze Zeit gearbeitet hatte. »Und Sie haben dieses Buch geschrieben?«
»Himmel, nein.« Der Mann wuchtete einen massiven Wälzer auf den Tisch. »Ganz im Gegenteil … Dieses Buch wurde für mich geschrieben.«
Verblüfft betrachtete der Provost den Wälzer. Er glaubt, dieses Buch wurde für ihn geschrieben? Es war ein Klassiker der Literatur … aus dem vierzehnten Jahrhundert.
»Lesen Sie es«, sagte der Klient mit einem schaurigen Lächeln. »Es wird Ihnen helfen zu verstehen, was ich getan habe.«
Mit diesen Worten erhob sich der ungekämmte Besucher und verabschiedete sich. Der Provost sah ihm durch das Fenster seiner Bürosuite hinterher, bis der Helikopter des Mannes abgehoben hatte und auf die italienische Küste zuhielt.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den antiken Wälzer vor sich auf dem Schreibtisch. Mit unsicherer Hand klappte er den ledernen Einband auf. Die eröffnende Strophe des Werkes war in großer kalligrafischer Schrift verfasst und nahm die gesamte erste Seite ein:
Inferno
Auf halbem Weg des Menschenlebens fand
Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,
Weil ich vom rechten Weg
Mich abgewandt.
Auf der gegenüberliegenden Seite hatte der Klient eine handschriftliche Nachricht hinterlassen:
Mein lieber Freund,
ich danke Ihnen, dass Sie mir geholfen haben, den Weg zu finden. Die Welt wird es Ihnen ebenfalls danken.
Der Provost hatte keine Ahnung, was die Worte bedeuteten, doch er hatte genug gelesen. Er klappte das Buch zu und stellte es ins Regal. Zum Glück wäre die geschäftliche Beziehung zu diesem eigenartigen Individuum bald beendet. Nur noch vierzehn Tage … , dachte der Provost und richtete den Blick auf den dahingekritzelten roten Kreis in seinem Kalender.
In den folgenden Tagen war der Provost ungewöhnlich nervös wegen dieses Klienten gewesen. Der Mann war offensichtlich völlig instabil geworden. Doch trotz der Vorahnungen des Provosts war die Zeit ohne Zwischenfall vergangen.
Bis unmittelbar vor dem entscheidenden Datum, als es in Florenz gleich zu mehreren Pannen in Folge gekommen war. Der Provost hatte vergebens versucht, die Krise in den Griff zu bekommen. Der Höhepunkt war schließlich der Tag gewesen, als sein Klient den Badia-Turm hinaufgeflohen war.
Er ist einfach gesprungen … in den Tod .
Trotz seines Entsetzens darüber, einen Klienten verloren zu haben – insbesondere auf solche Art und Weise –, hielt der Provost sein Wort. Er begann mit den Vorbereitungen, um sein letztes Versprechen gegenüber dem Verstorbenen einzuhalten. Er würde den Inhalt des Schließfachs der silberhaarigen Frau liefern, und zwar exakt zum vereinbarten Zeitpunkt.
Nicht vor dem eingekreisten Datum in meinem Kalender.
Der Provost hatte Vayentha den Umschlag mit dem Zugangscode für das Schließfach übergeben. Sie war nach Florenz gereist, um das Objekt zu holen – jenen »geistreichen Stachel« für die silberhaarige Frau. Dann hatte sie sich mit alarmierenden Neuigkeiten gemeldet. Jemand hatte das Fach bereits geleert, und
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