Inferno
»Ich dachte, Sie würden das verstehen. Ich musste doch wissen …«
»Auf diese Weise haben sie uns gefunden! Und jetzt wissen sie, wer ich bin! «
»Hören Sie, Sienna – es tut mir aufrichtig leid! Mir war nicht klar …« Langdon wand sich verlegen.
Sienna starrte ausdruckslos auf den großen Stalagmiten an der Rückwand der Grotte. Fast eine Minute lang sagte keiner von beiden ein Wort. Langdon fragte sich, ob Sienna in diesem Moment an die persönlichen Dinge dachte, die auf dem Schreibtisch gelegen hatten, das Programmheft von Shakespeares Mittsommernachtstraum und die Zeitungsausschnitte aus ihrer Kindheit. Ob sie ahnt, dass ich sie gesehen habe? Sie fragte jedenfalls nicht danach, und Langdon beschloss, sie nicht darauf anzusprechen. Er hatte bereits genug Probleme mit ihr.
»Die wissen, wer ich bin!«, wiederholte Sienna so leise, dass Langdon sie kaum hören konnte. Während der nächsten Sekunden atmete sie mehrmals tief durch, als versuchte sie, die Lage zu verarbeiten. Schließlich trat ein Ausdruck der Entschlossenheit in ihr Gesicht.
Ohne Vorwarnung sprang sie auf. »Wir müssen hier weg«, sagte sie. »Es dauert sicher nicht lange, bis sie merken, dass wir nicht in die Kostümgalerie geflüchtet sind.«
Langdon erhob sich. »Ja, aber wohin?«
»Sie erinnern sich an den Vatikan?«
»Wie bitte?«
»Ich habe endlich begriffen, was Sie vorhin meinten … Was der Vatikan und der Palazzo Pitti gemeinsam haben.« Sie neigte den Kopf in Richtung der kleinen grauen Tür. »Das ist der Eingang, stimmt’s?«
Langdon nickte verblüfft. »Genau genommen ist es der Ausgang, aber ich dachte, es wäre einen Versuch wert. Leider ist der Weg versperrt.« Langdon hatte genug von der Unterhaltung des Soldaten mit dem Wachmann gehört, um einzusehen, dass diese Fluchtmöglichkeit ausschied.
»Angenommen, wir kämen hinein«, beharrte Sienna mit neu erwachter Verschmitztheit. »Wissen Sie, was das bedeuten würde?« Ein schwaches Lächeln huschte über ihre Gesichtszüge. »Es würde bedeuten, dass Sie und ich heute schon zweimal vom gleichen Renaissance-Künstler Hilfe erhalten haben.«
Langdon kicherte. Er hatte wenige Minuten zuvor den gleichen Gedanken gehabt. »Vasari, Vasari«
Siennas Grinsen wurde breiter, und Langdon spürte, dass sie ihm verziehen hatte, wenigstens für den Augenblick.
»Ich glaube, das ist ein Zeichen des Himmels«, sagte sie und klang, als meinte sie es halbwegs ernst. »Wir sollten durch diese Tür gehen.«
»Okay – und wie? Marschieren wir einfach an diesem Wachmann vorbei?«
Sienna knackte mit den Fingerknöcheln und ging auf den Ausgang der Grotte zu. »Keine Sorge, Robert. Ich rede vorher ein Wörtchen mit ihm.« Sie sah Langdon an. »Vertrauen Sie mir. Ich kann ziemlich überzeugend sein, wenn ich muss.«
Schon wieder klopfte jemand an die kleine Tür!
Entschlossen, gnadenlos, ungeduldig.
Der Wachmann Ernesto Russo stieß ein frustriertes Knurren aus. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können. Offenbar wollte der fremde Soldat mit den kalten Augen wieder etwas von ihm. Das Fußballspiel war in die Verlängerung gegangen, Florenz hatte einen Mann weniger auf dem Platz, und die Partie hing am seidenen Faden.
Das wütende Klopfen hielt an.
Ernesto war kein Dummkopf. Er wusste, dass es draußen Scherereien gab an diesem Morgen – all die Sirenen, die Polizei und die Soldaten –, doch er hatte nie zu der Sorte Menschen gehört, die sich in fremde Angelegenheiten einmischte.
Pazzo è colui che bada ai fatti altrui.
Andererseits war der fremde Soldat zweifellos ein wichtiger Mann und ihn zu ignorieren wahrscheinlich unklug. Arbeit war dieser Tage schwer zu finden in Italien, selbst langweilige. Mit einem letzten wehmütigen Blick auf das Fußballspiel erhob sich Ernesto und marschierte durch den engen Gang in Richtung Tür.
Es fiel ihm noch immer schwer zu glauben, dass er dafür bezahlt wurde, den ganzen Tag in einem winzigen Büro zu sitzen und fernzusehen. Höchstens zweimal am Tag tauchte vor seinem Büro eine privat geführte Gruppe wichtiger Persönlichkeiten auf, die bereits den ganzen Weg von der Galerie in den Uffizien bis hierher zu Fuß zurückgelegt hatte. Jedes Mal empfing Ernesto die Leute, schloss das Gittertor auf und entließ die Gruppe durch die graue Tür nach draußen, wo die Führung im Boboli-Garten endete.
Das Klopfen wurde immer drängender, und Ernesto öffnete das Gittertor, ging hindurch und verschloss es hinter
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