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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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existenten Komplotten. Damit kann man ein ganzes Buch füllen, mit geflüsterten Dialogen, seltsamen Codes, dem Überprüfen von Telefonen. Dann tun die Figuren so, als würden sie vom Nachrichtendienst abgehört, als könnten sie jeden Moment von Gangstern aus dem Weg geräumt werden und befänden sich Tag und Nacht in Lebensgefahr. Aber im Nachhinein stellt sich heraus, dass das alles Quatsch war, es gab gar keine Gefahr, und der ganze Mist ist umsonst gewesen, weil im letzten Kapitel herauskommt, dass sie nur ein vernachlässigter Verwandter mit geheimnisvollen Anrufen zu beunruhigen versuchte. Da lese ich ja noch lieber Anitas Prinz.«
    Nel gähnte. »Was war das nochmal?«
    »Dieser Groschenroman von Peter. Über den Mann, der seiner Frau, koste was es wolle, ein Kind verschaffen wollte.«
    »Ach, der.«
    »Ja, er reist ins Ausland, sucht in einer abgelegenen Gegend nach einer allein stehenden Mutter, ermordet die Frau und nimmt das Kind mit nach Hause.«
    »Ich hab’s gelesen.«
    »Ich wollte dich ja nur abhören. Du weißt also auch, wie sie es hinterher mit den Papieren geregelt haben, und dass sie behaupteten, die Mutter habe in Belgien entbunden et cetera. Im Gegensatz zu den Romanen, die ich gerade meinte, war es eine gute Handlung, weil sie einfach und tatsächlich durchführbar war.«
    »Wie man sieht«, sagte Nel. »Man hätte die Geschichte nur nicht in Buchform publizieren sollen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Mit größter Wahrscheinlichkeit hat Peter sich die Handlung schon vor Jahren in aller Unschuld für einen seiner Groschenromane ausgedacht.«
    »Denk an Freud.«
    Ich betrachtete den Widerschein des gelblichen Lichts auf ihrem Gesicht, das sie der Nacht zugekehrt hatte. »Ich denke an Freud. Seine Frau wünscht sich schon seit Jahren ein Kind, es ist ein Thema, das sich ihm aufdrängt und sein Unterbewusstsein zum Spekulieren über mögliche Methoden anregt. Doch bei ihm war es nur Theorie, reine Fantasie. Ingrid fasste es erst als konkrete Lösung ins Auge, als sie den Roman später einmal las. Sie fing an, an der Handlung zu feilen und sie den örtlichen Gegebenheiten anzupassen. Es gelang ihr nicht, weil sie eine Amateurin ist. Das Fensterglas und ähnliche Dinge, aber vor allem die abgeschlossene Tür. Die weicht von dem ab, was normal wäre und weckt deshalb Misstrauen. Normalerweise schließt man ein Kind nicht in seinem Zimmer ein. Ein Profi hätte niemals die Tür abgeschlossen, denn dem wäre der Junge völlig egal gewesen. Ingrid dagegen sorgte sich um den möglichen Schaden an der Kinderseele. Sie ist eine Mutter, sie denkt nur an Tommy. Dadurch verrät sie sich.«
    Nel sah erleuchtete Schilder näherkommen. »Kaffee und ein kleines Steak«, sagte sie. »Danach darfst du wieder fahren.«
    Wir hatten Zeit genug. Als wir unser Steak aßen, sah ich, dass sie sehr erschöpft war. Ich fühlte mich ebenfalls todmüde. Auf dem Rasthof gab es eines von diesen kleinen Motels, bei denen man nur seine Kreditkarte in einen Automaten zu stecken braucht, um einen Zimmerschlüssel zu bekommen. Das Zimmer hatte eine Dusche, ein Bett und saubere Bettwäsche. Ich stellte meinen Reisewecker.
    Als ich die Augen öffnete, lag ich hinter CyberNel, den Arm um sie geschlungen. Manchmal frage ich mich, warum Frauen gerade in den fünf oder zehn Minuten zwischen Schlaf und Erwachen so unwiderstehlich sind. Ihr Körper schlief, alles an ihr war warm und weich, kein Muskel hatte sich bisher bewegt, ihr Körper ruhte in völliger Hingabe auf der Matratze. Manchmal glaube ich, es liegt vor allem daran, dass noch kein Gedanke durch ihren Kopf gegangen ist, ihr Gehirn ist außer Betrieb, es sind noch keine Spannungen aufgekommen, man musste noch keine Entscheidungen treffen, keine Probleme lösen. Sie brauchte noch nicht über die Einkaufsliste nachzudenken oder darüber, welche Leute in Frage kämen, falls der Staat plötzlich beschließen sollte, ein Drittel ihrer Landsleute an den Nordpol zu verbannen, um das Problem der Überbevölkerung im eigenen Land zu lösen.
    Der Wecker hatte noch nicht geläutet. Es herrschte dieses frühe Sommermorgenlicht, in dem die Welt für die nächsten paar Stunden noch kühl, frisch und unschuldig aussieht. Ich streichelte ihren Bauch, nahm sie fester in den Arm und murmelte: »Ich liebe dich.«
    »Ach, das sagst du nur so«, murmelte sie zurück.
    »Nein.« Ich spürte, wie sie sich bewegte; dies war die Stunde der Morgenlust und nicht der Worte, und mir fiel nichts anderes

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