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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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Jennifers kleiner Peugeot stand an seinem Platz unter dem Schutzdach. Eine Scheibe in der Hintertür war kaputt. Ich hielt Ingrid zurück, als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte. »Nichts anfassen!«
    Ich wickelte mir ein Taschentuch um die Hand, bevor ich durch das kaputte Fenster reichte. Ich fühlte keinen Schlüssel, nur einen runden, geriffelten Knopf, mit dem man von innen die Tür verriegeln konnte. Ich drehte ihn auf, zog meine Hand zurück und legte mein Taschentuch auf den Türknauf, bevor ich öffnete. Das Kind hörte nicht auf zu weinen. Mein Gefühl sagte mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.
    Ingrid stand mit vor Schreck geweiteten Augen neben mir. »Warte hier«, sagte ich.
    Ich betrat den Abstellraum mit den Backsteinwänden und drückte die Tür hinter mir zu. Ich ging an der Tiefkühltruhe und der Waschmaschine vorbei und benutzte mein Taschentuch, um die Tür zum Wohnraum zu öffnen. Vielleicht hörte Tommy mich, denn das Weinen auf der oberen Etage hörte plötzlich auf. Jennifer lag auf den Fliesen vor der Anrichte, den Kopf in einer Pfütze aus geronnenem Blut.
    Ich hockte mich neben sie und befühlte ihren Hals. Ich konnte nichts mehr für sie tun, sie war tot. Jemand hatte ihr mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen. Ihre kurzen Haare waren mit dem getrockneten Blut zu einer dunklen Matte verklebt. Bei ihren letzten Zuckungen hatte ihr Kopf einen verschmierten Halbkreis hinterlassen.
    Es musste in der Nacht geschehen sein, doch es brannte kein Licht. Auf den Fliesen lagen dünne Glasscherben, und Jennifers Finger umklammerten den Kunststoffhandgriff einer Glaskaffeekanne. Die Metallklammer hing noch daran. Auf den Scherben glänzte eine Feuchtigkeit, die hellere Flecken auf dem Fußboden bildete – kein Kaffee, sondern Wasser. Außer der zerbrochenen Kaffeekanne gab es keine Spuren eines Kampfes, alles stand an seinem Platz.
    Ich sah keine Mordwaffe. Ich ging hinauf ins Halbgeschoss. Wahrscheinlich hörte Tommy das Knarren der Treppe, denn er fing an zu rufen und an die Tür zu hämmern. »Mami! Mami!«
    Die Tür war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte. Ich hielt das Taschentuch um die Finger gewickelt und drehte ihn um. Tommy trippelte rückwärts, als ich vorsichtig die Tür öffnete. Sein Gesicht war rot und nass. Er erschrak, als er mich anstatt seiner Mutter sah, und fing wieder an zu weinen. »Mami!«
    »Nicht weinen, du kommst jetzt erst mal mit mir.« Ich steckte mein Taschentuch ein und nahm ihn auf den Arm. Er war nass und schmutzig und stank nach vollgeschissener Windel. Ich zog rasch eine kleine Decke aus seinem Bett und wickelte ihn darin ein, bevor ich ihn zur Balkontür trug. Offensichtlich wurde die Tür selten gebraucht, denn ich musste mit der Faust gegen die Knöpfe der schweren Riegel oben und unten schlagen, um sie bewegen zu können.
    Draußen trat Ingrid unter dem Balkon hervor und starrte ängstlich nach oben, als ich mit Tommy auf dem Bretterboden erschien und ihn die Holztreppe hinuntertrug. »Was ist denn passiert?«
    Ich drückte ihr Tommy in die ausgestreckten Arme. »Nimm ihn mit, er braucht eine saubere Windel.«
    Tommy klammerte sich an ihr fest, und Ingrid presste sein blondes Köpfchen an sich. »Ist irgendwas mit Jen?«
    »Später. Kannst du ihn tragen? Er muss erst hier weg.«
    Sie starrte mich zwei Sekunden lang entsetzt an und rannte dann mit ihrer Last den Deich hinauf.
    Ich unterdrückte meinen Impuls, den Tatort näher zu untersuchen, und eilte nach Hause, um die Polizei anzurufen.
     
    In weniger als zehn Minuten waren die Beamten zur Stelle. Sie waren so vernünftig, kein unnötiges Aufsehen zu erregen und weder Sirenen noch Blaulicht einzuschalten. Sie kamen zu zweit: ein älterer Brigadier und ein jüngerer Kollege, der übernächtigt aussah, als raubten ihm finanzielle Sorgen oder seine Karriere den Schlaf. Vielleicht war er aber auch nur nervös, weil dies sein erster Mordfall war.
    »Haben Sie uns angerufen?«, fragte der Brigadier.
    »Ja. Mein Name ist Max Winter, ich wohne im Nachbarhaus …«
    »Brigadier Stelling.« Er ignorierte meine ausgestreckte Hand. »Sie sind drin gewesen?«
    Ich nickte. »Die Hintertür ist offen.«
    »Okay, warten Sie hier einen Moment.« Der Brigadier zog ein paar Plastikhandschuhe aus einer Seitentasche seiner Uniform und winkte seinen Kollegen Jennifers Einfahrt hinunter. Der Brigadier verschwand hinter dem Haus, während der Kollege die Einfahrt mit Flatterband

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