Ingrid
»Peter ist jetzt zu Hause. Wir würden gerne mit dir reden, hättest du einen Moment Zeit für uns?«
»Das klingt ja nach einem Problem«, antwortete ich, nur halb im Scherz. »Ist es euch lieber, wenn ich zu euch komme, oder hast du einen Babysitter für Tommy?«
»Er schläft, und die Putzfrau ist noch da. Wir kommen bei dir vorbei.«
Es schien mir die passende Tageszeit für Tee, und eine Schachtel Pralinen hatte ich auch noch, alles hübsch passend. Ich fühlte mich sehr intensiv als Junggeselle, wie meistens, wenn ich Vorbereitungen für Besuch traf. Ich war ein allein lebender Deichbewohner mit einer ermordeten Nachbarin.
Es tat mir Leid um Jennifer. Ich wusste nicht, wie ich mein leeres, trauriges Gefühl des Verlusts anders beschreiben sollte. Ich war ihr nur zweimal begegnet, aber diese beiden Male hatten mir genügt, um sie als nette Nachbarin einzuschätzen, unschuldig und ein wenig undurchschaubar. Außerdem hatte sie diesen blonden Dreikäsehoch, und sie hatte sich mir anvertraut.
Wahrscheinlich war ich gerade im Bett gewesen, als jemand ihr in nur fünfzig Metern Luftlinie Entfernung, bloß durch ein bisschen Grünzeug und ein paar Mauern von mir getrennt, den Schädel eingeschlagen hatte. Sie war noch angezogen gewesen, vielleicht hatte sie sich noch eine späte Sendung im Fernsehen angeschaut. Die Autopsie würde zeigen, ob ich mich irrte, aber nach meiner ersten Einschätzung, basierend auf ihrem äußerlichen Zustand, dem Blut und dem Stadium der Leichenstarre, war sie seit ungefähr acht Stunden tot gewesen. Damit wäre sie gegen Mitternacht gestorben, was eigentlich ziemlich spät war, um noch Kaffee zu kochen, es sei denn, dieser war für einen unerwarteten Besucher bestimmt gewesen. Das wies darauf hin, dass sie ihren Mörder gekannt und freiwillig hereingelassen hatte, was allerdings im Widerspruch zu der eingeschlagenen Scheibe in der Hintertür stand. Eine merkwürdige Ungereimtheit. Am merkwürdigsten empfand ich jedoch, dass ich direkt nebenan wohnte und es trotzdem nicht mein Fall war.
Peter sah geistesabwesend und müde aus, als sei er bis zum frühen Morgen im Amsterdamer Nachtleben versackt. Ingrid wirkte nervös und angespannt.
»Da komme ich nichts ahnend nach Hause …« Peter schüttelte den Kopf. »Das war vielleicht ein Schock.«
Ich ließ sie am weißen Tisch in der Küche Platz nehmen und setzte Tee auf. »Hat die Polizei schon mit dir geredet?«, fragte ich Peter.
»Nein, nur mit Ingrid, bevor ich nach Hause gekommen bin. Ich kann denen ja sowieso kaum weiterhelfen, schließlich war ich in Amsterdam. Aber es ist wirklich furchtbar, Jenny war so eine nette Frau, sie hatte nichts Böses an sich. Wer ist bloß zu so was fähig? Und aus welchem Grund?«
Ich nickte. Tja. Peter tastete nach dem Kopf seiner Pfeife, die aus der Brusttasche seines Cordsakkos herausschaute. »Darf ich?«
»Nur zu. Ingrid, nimm dir eine Praline.«
Ingrid schüttelte den Kopf. Sie packte den Stier bei den Hörnern. »Wir würden gerne deine Meinung zu einer bestimmten Sache hören, die Peter und ich uns überlegt haben. Es geht um Tommy.«
»Ich weiß nicht, ob euch meine Meinung weiterhelfen kann.«
»Aber natürlich.« Sie schaute mich ein wenig flehend an, wie ein Kind, das ein übergroßes Geschenk auf seinen Wunschzettel geschrieben hat und sich nicht traut, ihn herzuzeigen. »Ich wollte eigentlich nicht unbedingt Kinder haben, aber Tommy …«
Ich begann zu vermuten, dass ihre geröteten Wangen und ihr nervöses Verhalten etwas mit hoffnungsvollen Zukunftsaussichten zu tun hatten.
»Tommy ist eine Ausnahme?«
»Ich weiß nicht, wie das genau vor sich geht, was alles möglich ist oder nicht, aber ich bin mir sicher, dass es Jennifer Recht wäre …« Ingrid biss sich auf die Lippen, als würde ihr plötzlich klar, dass sie über das Erbe zu verhandeln begann, noch bevor die Leiche ganz kalt war.
»Du meinst, dass du ihn adoptieren möchtest?«, fragte ich, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen.
»Nicht nur ich, wir beide möchten das.«
Ich schaute Peter an. Die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt, schwieg er, nickte zustimmend und nuckelte an der Pfeife in seinen verschränkten Händen. »Ich verstehe nur nicht so recht, was ich damit zu tun habe«, sagte ich. »Ich glaube, ihr solltet euch darüber besser mit dem Jugendamt unterhalten.«
Ingrid brauste auf. »Du weißt doch genauso gut wie wir, was Jennifer gewollt hätte.« Sie klang aggressiv und verzweifelt, als hätte ich
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