Ingrid
freundschaftlichen Umgang mit Ihnen pflegte, würden wir jemanden auf ihn ansetzen und ihm keinen Zugang mehr zu vertraulichen Informationen über den Fall gewähren.«
Durch das Seitenfenster nahm ich Bewegungen am Ende der Hecke wahr. Jennifer verließ ihr Zuhause, auf einer Bahre, unter einem moosgrünen Laken. Zwei Männer schoben sie in den Leichenwagen, und ich schaute schweigend zu, wie sie die Heckklappe schlossen, einstiegen und wegfuhren.
Es fühlte sich wie ein Abschied an. Jennifer wohnte hier nicht mehr und sie hinterließ eine Art Leere. Ich versuchte, meiner Gereiztheit Herr zu werden. Kemming konnte ja auch nichts dafür. »Sie könnten sich eine Menge Spekulationen ersparen, wenn Sie meine früheren Kollegen in Amsterdam anrufen oder meine Akte anfordern würden«, sagte ich dennoch.
»Hat Ihre Nachbarin in letzter Zeit Besuch gehabt, oder haben Sie Unbekannte bei Ihr gesehen?«
»Nein.«
»Ist Ihnen etwas anderes Ungewöhnliches aufgefallen?«
Ich dachte an Bokhof, hielt aber den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich wohne hier noch nicht lange genug, um beurteilen zu können, was ungewöhnlich ist oder nicht.«
Ingrid erschien auf dem Deich, als wolle sie meine Behauptung Lügen strafen. Der Brigadier bemerkte meinen Gesichtsausdruck und drehte sich um, aber sie war schon am Fenster zur Einfahrt hin vorbei. »Einen Augenblick«, sagte ich und eilte zur Terrassentür.
Ingrid hatte ein rosiges Gesicht und war ein bisschen außer Atem. Sie hatte eine große Einkaufstasche aus Bast dabei. »Ich suche Brigadier Kemming, der Streifenpolizist hat behauptet, er wäre hier.«
Ich ließ sie herein. »Wie geht es Tommy?«
»Noch weiß er von nichts.« Ingrid biss sich auf die Lippen, holte tief Luft und ging hinauf ins Wohnzimmer, wo Kemming noch immer nicht des Herumstehens müde geworden war. Ich stellte ihr den Brigadier vor und erklärte ihr das ein oder andere.
»Ist schon jemand bei Ihnen gewesen?«, fragte Kemming.
»Nein, aber ich brauche ein paar Anziehsachen und andere Dinge für Tommy, und der Beamte nebenan sagte, ich müsse Sie vorher fragen.«
Kemming nickte. »Ich glaube nicht, dass das ein Problem ist, ich muss nur kurz nachschauen, ob die Spurensicherung schon abgeschlossen ist.«
»Ansonsten könnte sie ja hintenherum reingehen, über den Balkon auf der Rückseite«, schlug ich hilfsbereit vor.
Ingrid fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. Sie wirkte nervös. »Ich habe noch eine Frage«, begann sie.
»Ich komme sowieso später noch bei Ihnen vorbei«, sagte Kemming. »Hat es bis dahin Zeit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht um Tommy.« Mit einer Handbewegung auf mich deutend fuhr sie zögernd fort: »Max … Meneer Winter weiß, dass ich immer auf ihn aufpasse und dass Jennifer gerne wollte, dass ich für ihn sorge … Ist es in Ordnung, wenn er bei mir bleibt?«
»Ich bin froh, dass er zumindest vorläufig untergebracht ist«, sagte Kemming. »Wissen Sie, wer der Vater ist?«
»Nein, keine Ahnung.« Ingrid schüttelte ihr blondes Haar. »Ich habe Jennifer zwar hin und wieder danach gefragt, aber sie wollte nie darüber sprechen. Vielleicht wusste sie es selbst nicht. Soweit ich weiß, hat sie auch keine Verwandten. Mein Mann und ich lieben Tommy, ich bin es gewöhnt, für ihn zu sorgen, er könnte es nirgendwo besser haben, nicht wahr?« Ich erkannte, dass Kemmings betontes »vorläufig« ihr Sorgen bereitete, und ihre Augen bettelten mich um eine Bestätigung ihrer Worte an.
»Allerdings«, sagte ich zustimmend.
Ingrid lächelte dankbar.
Kemming zuckte mit den Schultern. »Ich sehe da kein Problem, solange nichts über eventuelle Verwandte bekannt ist. Ich informiere das Jugendamt; die werden Kontakt mit Ihnen aufnehmen, und mit denen müssen Sie dann das Weitere besprechen. Lassen Sie uns erst einmal die Sachen für den Kleinen holen gehen, ich begleite Sie.«
Er ließ Ingrid vorausgehen und folgte ihr.
»Kommen Sie danach noch einmal zu mir?«, fragte ich.
Der Brigadier blickte sich an der Tür noch einmal um und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, wir sind vorläufig fertig, aber wenn Ihnen noch etwas Nützliches einfällt, wüssten wir natürlich gerne Bescheid.«
Seine Haltung war und blieb kühl, fast feindselig, von Anfang an bis jetzt. Und sehr amtlich, trotz seiner ungekämmten Landstreichermähne. Gewiss kein Mann, der mit plötzlichen Eingebungen spielte oder gewagte Theorien entwickelte.
3
Ingrid rief noch am selben Nachmittag an.
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