Ingrid
Unterschlagung von Beweismaterial beziehungsweise die Behinderung polizeilicher Ermittlungen hinaus. Das schwache Argument, dass man mich engagiert hatte, um Jennifers Familie ausfindig zu machen, wäre nur eine magere Entschuldigung gewesen.
»Ja, bitte?«
Ich drehte mich um. Ein Mann um die dreißig, unrasiert und mit staubigen Haaren. Ich bemühte mich um ein freundliches Lächeln. »Guten Tag. Meneer Steffens? Mein Name ist Max Winter, ich bin auf der Suche nach ihrem Nachbarn, es tut mir Leid, wenn ich Sie störe …«
»Macht nichts, ich musste sowieso aufstehen.« Der Mann hielt die Hand vor den Mund und gähnte. »Ich arbeite im Krankenhaus und habe Nachtdienst. Was wollen Sie denn von Jeroen?«
»Ich muss ihn sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
Ich schaute ihn erstaunt an, anstatt zu antworten.
Der Mann lachte. »Wissen Sie, er würde mir auch keine Schuldner oder Gerichtsvollzieher auf den Hals hetzen.«
Die bessere Art der Nachbarschaftshilfe. »Sie sind also gute Freunde?«
»Zumindest sind wir gute Nachbarn.«
Ich nickte. »Meine Nachbarin ist gestern verstorben.
Sie hat allein gelebt, und ich bin auf der Suche nach ihren Angehörigen. Der einzige Anhaltspunkt ist ein Brief von Jeroen Kramer; er könnte zum Beispiel ihr Exmann sein.«
»Ich wusste gar nicht, dass Jeroen mal verheiratet war. Wie hieß die Dame?«
»Jennifer van Maurik.«
Steffens schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir nichts. Jeroens Freundin heißt Mirjam.« Er war nicht unfreundlich, musterte mich aber mit einem Blick, der womöglich weniger verschlafen war als es schien.
»Falls sie eine Verwandte von ihm war oder eine Freundin, möchte Jeroen sicher wissen, was passiert ist«, sagte ich. »Kann ich ihn irgendwo erreichen?«
Er schaute auf seine Armbanduhr. »Wenn ich richtig liege, muss er am späten Nachmittag los. Warten Sie einen Moment …«
Innerhalb von zwei Minuten war er wieder zurück. »Seine Maschine startet um Viertel nach sechs, aber er kommt in einer halben Stunde in den Wijde Blik und hält nach Ihnen Ausschau.«
»Wie sieht er aus?«
»Er trägt bestimmt seine Uniform. Jeroen ist Flugbegleiter bei der KLM, so ein Typ mit blonden Locken und jungenhaftem Aussehen, der in sämtlichen weiblichen Passagieren Mutterinstinkte weckt. Er erwartet Sie an der Bar.«
Ich dankte ihm lachend. In knapp zwanzig Minuten war ich am Flughafen Schiphol und fand ohne größere Probleme einen Parkplatz unter dem Ankunftsterminal in der Nähe der Aufzüge.
Ich erkannte Jeroen Kramer mühelos an seiner Uniform und den blonden Locken. Außerdem war er der Einzige, der sich nicht für die startenden und landenden Flugzeuge interessierte und mit dem Rücken zum Flugplatzpanorama saß. Steffens hatte mit seiner Bemerkung über sein jungenhaftes Äußeres Recht gehabt. Manche Männer behalten auch im Erwachsenenalter dieses rundlich-blühende und etwas naive Aussehen eines Vierzehnjährigen. Ich konnte mir die Reaktionen der weiblichen Passagiere vorstellen.
Kramer war höchstens dreißig, wirkte aber jünger und vor allem sympathisch und arglos. Er wäre wunderbar für die Rolle des klassischen Opfers in einem Film mit Jack Nicholson als Gebrauchtwagenhändler geeignet gewesen. Vor ihm stand eine Limonade. Das stellte mich vor ein altes Problem. Zu Tageszeiten, an denen es noch zu früh für Alkohol ist, weiß ich nie, was ich bestellen soll. Wirklich durstig bin ich selten, und Limonade kann man meiner Meinung nach nur trinken, wenn man Durst hat, und selbst dann ist mir Wasser genauso recht. Infolgedessen trinke ich zu viel Kaffee, wodurch auch der mir zuwider wird. Wir hatten uns gerade begrüßt, als auch schon eine Kellnerin mit Tablett zu uns trat.
»Ist etwas mit Jennifer passiert?«, fragte Kramer, als ich mich auf den Barhocker neben ihn gesetzt hatte.
Ich zögerte. »Hat Ihr Nachbar es Ihnen nicht erzählt?«
Er schüttelte den Kopf. »Er hat nur gesagt, Sie seien Jennys Nachbar und machten keinen dubiosen Eindruck.«
Der Kaffee kam. Ich wartete, bis das Mädchen weg war.
»Jennifer ist tot.«
Sein Gesicht, das er mir zugewandt hatte, wurde regelrecht grau; ein merkwürdiger Kontrast zu seiner Jungenhaftigkeit. Seine Augen konnte ich nicht gut erkennen. Wir saßen weit hinten im Restaurant, in dieser trostlosen Kühle, die der Sommer in solchen Gebäuden manchmal verursacht. Das Dunkel rund um die Bar wurde durch das grelle Sonnenlicht noch verstärkt, das durch die Fenster gegenüber hineinfiel, vor
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