Ingrid
denen Leute an kleinen Tischen saßen. Draußen auf der Terrasse saßen weitere Gäste. Kinder kreischten. Ein Düsentriebwerk begann zu dröhnen.
»Tot? Das kann doch nicht wahr sein!«
»Sie wurde ermordet.«
»Ermordet?« Jetzt erkannte ich Schmerz in seinem Gesicht und etwas wie Schuldbewusstsein. Er wandte sich ab. »Hat es dieser Mann getan?«
»Welcher Mann?«
Er schüttelte den Kopf, zog ein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. Dann knüllte er das Taschentuch zu einer Kugel zusammen und drückte es erst an das eine, dann an das andere Auge.
»Aus Ihrem Brief ging hervor, dass sie Sie wegen irgendeines Problems um Hilfe gebeten hatte«, sagte ich.
»Woher wissen Sie, was in meinem Brief stand?« Er schaute mich über das Taschentuch hinweg an und ich erkannte, was sein Nachbar gemeint hatte – sein naives Aussehen trog.
Ich seufzte. »Ich bin erst vor kurzem in das Haus nebenan eingezogen und habe Jennifer nur zweimal getroffen. Eine andere Nachbarin sollte auf Jennifers Sohn Tommy aufpassen, weil sie nach Amsterdam musste. Sie hat mich gerufen, als auf ihr Schellen hin niemand aufmachte. Ich fand Jennifer tot in ihrer Küche. Ich habe die Polizei verständigt. Niemand wusste etwas über sie, und man hat mich damit beauftragt, ihre Angehörigen ausfindig zu machen. Ich fand Ihren Brief in Jennifers Briefkasten und war so frei, ihn zu öffnen. Vielleicht hätte ich das der Polizei überlassen sollen, aber dann säße hier jetzt ein Polizist und würde Sie fragen, ob Sie der Vater von Tommy sind.«
Verwirrt erwiderte er meinen Blick. »Der Vater von Tommy?«
»Sind Sie ihr Exmann oder ein früherer Freund?«
Seine Bestürzung legte sich, als er begriff, dass ich die Zusammenhänge nicht kennen konnte. »Ich bin ihr Bruder«, erklärte er.
Aha. Jetzt wurde mir klar, warum er mir irgendwie bekannt vorkam. Jennifer hatte ein schmaleres Gesicht gehabt, das härter oder zumindest nüchterner gewirkt hatte, und sie war braunhaarig und nicht blond gewesen, aber jetzt erkannte ich etwas von ihr in Jeroens Augen wieder und in der männlichen Version desselben zu kleinen Mundes.
»Hat sie noch andere Verwandte?«
Jeroen schüttelte den Kopf. »Jennifer … Was soll ich denn jetzt machen?« Niedergeschlagen schaute er auf seine Armbanduhr.
»Wenn Sie ihr einziger Verwandter sind, wird es die Polizei gerne sehen, wenn Sie bald mir ihr Kontakt aufnehmen.«
»Reicht es, wenn ich anrufe?«
Ich ließ mir etwas Zeit mit der Antwort. Vielleicht dachte er: tot ist tot. Aber ganz so unsensibel erschien er mir nicht. Eher verwirrt. »Sie muss offiziell identifiziert werden«, sagte ich. »Und Sie sind der Einzige, der das übernehmen kann, wenn sie keine anderen Angehörigen hat.« Ich zog mein winziges Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Tasche. »Sie können mir schon einmal ihre persönlichen Daten nennen, ihr Geburtsdatum und ihren Geburtsort … War van Maurik der Name ihres Exmannes?«
»Ihres Exmannes?« Er sah höchst erstaunt aus. »Jennifer war nie verheiratet.«
»Warum hieß sie dann van Maurik?«
Er fing an, sich ein wenig von seinem ersten Schrecken zu erholen. »Irgendwann hat sie sich dazu entschlossen, ihren Namen zu ändern. Damals, als sie nach Rumpt zog.«
»Sich dazu entschlossen? Wie meinen Sie das? Steht dieser Name auch in ihren Papieren? Ich glaube nicht, dass das so ohne Weiteres möglich ist.«
»Ich hatte kaum Kontakt zu ihr, und das ist schon seit langem so. Sie hat mir mitgeteilt, dass sie von nun an Jennifer van Maurik hieße und mich gebeten, das zu akzeptieren. Ich weiß aber nicht, warum.« Er zögerte und fügte mit einem Blick über die Schulter hinzu: »Die Polizei wird das natürlich sowieso noch herausfinden … Jenny ist früher einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten, vielleicht hatte es etwas damit zu tun.«
Jennifer Kramer. Juffrouw Kramer, ein Häuschen am Lingedeich. Die beiden Deiche wurden ständig verwechselt, und es war so gut wie sicher, dass der Mann im Pontiac auf der Suche nach meiner Nachbarin gewesen war. Hatte er sie doch noch gefunden, ungefähr um Mitternacht?
»Wissen Sie, wer Tommys Vater ist?«
»Nein, ich habe keine blasse Ahnung«, antwortete er mit einem bedauernden und zugleich reumütigen Gesichtsausdruck. »Wie ich schon sagte, ich habe nur wenig Kontakt …«
Eine Frau rief: »Roen, bist du soweit?«
Ich sah, wie sich der Ausdruck in Kramers Augen veränderte und drehte mich um. Eine gut aussehende Stewardess kam vom
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