Ingrid
noch vor dem Piepton auf. Vielleicht lag es an der kühlen, makellosen Unschuld ihrer Stimme, dieser fast adeligen Perfektion. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, sie mit meinen niedrigen Verdächtigungen oder mit den Schatten aus der Vergangenheit ihres Verlobten zu belästigen.
Natürlich war das eine Form von Feigheit. Bei der Kripo hätten Bart und ich uns über all diese Empfindlichkeiten hinweggesetzt. Doch jetzt war ich der Chef und durfte zögern.
Dann eben erst der Rest der Liste. Und wenn ich dann nichts an der Angel hatte, konnte ich ja immer noch vorsichtig einen Köder für die schöne Louise auswerfen. Ich hinterließ Nel eine Nachricht und verließ die Stadt.
Sie hatte einen langen, runzeligen, pockennarbigen Hals, graues Haar bis ans Kinn, ein vorspringendes Vogelgesicht und trug ein schwarzes Schürzenkleid. Sie war hier geboren, und alles war genau so wie früher bei ihrer Mutter. Sie hatten zwar Fernsehen, Fax und Internetanschluss, doch für die Frau des Hauses änderte sich nichts. Das hier war das alte Dorf, der Kern, zu hart für den Holzwurm, der an den äußeren Schichten nagte.
Ich war hintenherum gegangen und stand vor der Küchentür. »Guten Tag, Mevrouw«, sagte ich. »Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Er ist im Kühlhaus. Was wollen Sie von ihm?«
»Es geht um Ihre ehemalige Mieterin.«
»Sind Sie von der Versicherung?«
Mir wurde klar, dass sie mich noch nie gesehen hatte. »Nein, Mevrouw, ich bin Detektiv.« Ich zog meinen Meulendijkausweis hervor, aber sie würdigte ihn keines Blickes. Ich begriff, dass man in ihrer Welt davon ausging, dass Menschen die waren, für die sie sich ausgaben, und sie deshalb weder Nachweis noch Legitimation zu liefern brauchten.
»Die Polizei ist aber schon dagewesen.«
Für sie gab es wahrscheinlich auch keinen Unterschied zwischen Polizisten und Detektiven. »Ich hätte da noch ein paar Fragen«, sagte ich unbestimmt. »Darf ich reinkommen?«
Der Polizei verweigerte man nichts. Mein Gegenüber im Ungewissen zu lassen, brachte mich manchmal an die Grenzen meiner Berufsethik.
Das Haus war vielleicht fünfzig Jahre alt, erbaut aus Backstein und modernen Materialien, doch der geflieste Flur hatte den Geruch alter Bauernhöfe angenommen. Nicht nach Mist, denn das hier war ein Obstanbaubetrieb. Es waren die Gerüche von zu lange gekochtem Rotkohl und zu Mus geschmorten Rindsrouladen, den Sorten Bohnerwachs, die nirgendwo sonst mehr verwendet werden. Und auch das fade, süßliche Aroma von Äpfeln, die man über Winter gelagert hatte und die jetzt, im Juni, die äußerste Grenze ihrer Haltbarkeit erreichten.
Sie führte mich ins Wohnzimmer, als sei ich Sonntagsbesuch, und bot mir Tee an.
Ich saß zwischen den schweren Möbeln und dem glänzenden Büfett. Auch hier hing dieser Geruch, noch verstärkt durch die Ausdünstungen von kleinen Perserteppichen und der Dorfkirche am Sonntag. Der Tee wurde in dünnem Blümchenporzellan serviert, mit Plätzchen auf einer Silberschale.
Sie folgte meinem Blick zu einem eingerahmten Foto. »Das ist mein ältester Sohn. Er hat letztes Jahr geheiratet, eine Belgierin.«
»Und der jüngere arbeitet im Betrieb?«
»Ja, Harm.« Ihre dünnen Lippen blieben einen Augenblick lang still. »Er heißt wie mein Mann«, fügte sie hinzu.
Ich versuchte, mir Harm Bokhof mit seiner Gattin zusammen vorzustellen, und dachte an den Kontrast zwischen dieser weiß gekachelten Langeweile und der lockeren Grasraucheratmosphäre auf der anderen Seite. Hier war alles verboten, und vielleicht hatte er gedacht, dort sei alles erlaubt, bei den neuen Leuten, den Importierten, der zügellosen Großstadt. »Ich habe Ihren Mann auf einem Fest bei meinen Nachbarn ein paar Häuser weiter kennen gelernt«, sagte ich. »Aber ich glaube, Sie habe ich dort nicht gesehen, stimmt das?«
»Ja, das stimmt.«
»Gehen Sie nicht so gern auf Partys?«
»Mein Mann geht hin, ich bleibe lieber zu Hause.«
»Aber Sie haben Kontakt zu den Nachbarn, die das Fest gegeben haben?«
Sie wandte verdrießlich den Blick ab. »Sie haben sich vorgestellt, als sie hierher gezogen sind. Ich habe sie begrüßt, aber sie sind anders als wir. Sie wollten Eier von frei laufenden Hühnern. Wir haben normale Eier. Ich bedaure es nicht, dass sie wegziehen.«
Ich sah, wie sie hinüber zu einem eingerahmten Stickbild schaute, mit Blumen und Vögelchen und der Inschrift »Der Herr ist mein Hirte« in kindlichen Buchstaben. »Wegziehen?«, fragte ich.
»Ich habe so was
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