Ingrid
Stirn in Falten und stieß nach einer Weile einen Seufzer in Richtung Fenster aus: »Dieser Blödmann.« »Tja.«
»Warum hat sie mich nicht angerufen?«
Die Frage galt nicht mir. Ich studierte ihr norwegisches Profil und ihr fast weißes Haar, das im hässlichen Mattglaslicht seinen Glanz verlor.
»Muss sie jetzt auch das Kind abgeben?«, fragte sie dann.
»Hast du irgendeine Ahnung, wo sich Ingrid aufhalten könnte?«, fragte ich zurück. »Sie ist zusammen mit Tommy verschwunden, und ihr Auto ist weg.« Ich dachte an unsere ziemlich feindselige erste Begegnung auf Ingrids Geburtstagsfest und beschloss, ihr zu verschweigen, dass ich bei ihrer Schwester eingebrochen hatte und wusste, dass Koffer fehlten.
Sigrid näherte ihr Gesicht dem meinen. »Was hast du mit der Sache zu tun?«
»Ich habe Ermittlungen im Zusammenhang mit der Adoption für sie durchgeführt, hat sie dir das nicht erzählt?«
»Na und?«
»Hast du nicht besonders viel Kontakt mit ihr?«
»Sie hat mir nur noch nichts von Peter erzählt, das ist alles.«
»Habt ihr so wenig Kontakt zueinander, weil du es ihr verübelst, dass sie Liebhaber hat?«
Sie erwiderte kühl meinen Blick. »Ich dachte, du wärst einer von denen.«
Ich hielt ihrem Blick stand und zuckte mit den Achseln. »Ich habe sie an ihrem Geburtstag zum ersten Mal gesehen.« Bevor sie erkannte, dass ich ihrer Frage auswich, fügte ich rasch noch hinzu: »Ingrid ist an dem Abend, an dem Jennifer ermordet wurde, doch zu dir gefahren? Das war am Dienstag, dem 13. Juni.« »Ja, sie hat mich am nächsten Tag angerufen und mir erzählt, dass Jennifer umgebracht worden sei und sie Tommy zu sich genommen habe.«
»Was habt ihr an jenem Abend unternommen?«
»Wir sind in einer Kneipe hier in der Nähe gewesen. Wieso?«
»Bis um welche Uhrzeit?«
»So etwa bis elf.«
»Und hat sie danach bei euch übernachtet?«
»Warum spielt das eine Rolle?«
»Man wird dich unter Umständen als Zeugin vernehmen.«
»Warum? Peter hat doch zugegeben, dass er es getan hat?«
Ich nickte. »Aber man wird auch versuchen, herauszubekommen, ob Ingrid in die Sache verwickelt war oder nicht.«
Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, und sie schüttelte den Kopf. »Peter hat die junge Frau nicht ermordet.«
»Nicht?«
»Nein, das kann nicht sein, denn er war in jener Nacht in Amsterdam, das hat Ingrid jedenfalls behauptet. Deshalb ist sie zu mir gekommen.«
»Hat sie bei euch übernachtet?«
Sigrid erstarrte, und vielleicht wurde ihr klar, dass sie, indem sie Peter ausschloss, den Verdacht auf ihre Schwester lenkte. Das machte sie nervös. »Ich rede hier einfach so über meine Schwester.« Sie schüttelte den Kopf, als habe sie eine Entscheidung getroffen. »Ich finde das irgendwie nicht richtig. Ich weiß nicht, wo sie ist. Schluss, aus.«
»Hat sie einen Freund hier in der Nähe, ist sie später am Abend vielleicht zu ihm gegangen?«
Sie reagierte abweisend. »Das geht mich nichts an, das kannst du sie selber fragen.«
»Könnte ich, wenn sie hier wäre.«
»Sie taucht schon wieder auf.« Sigrid stand auf. »Ich muss an die Arbeit.«
»Jetzt warte doch mal, Sigrid«, sagte ich. »Ich glaube, dass sie durchgebrannt ist.«
»Wie, durchgebrannt?«
Ich erklärte ihr, dass Tommys Vater und dessen Verlobte Ansprüche auf das Kind erhoben. Das machte sie traurig. »Ach Gott, die Arme«, sagte sie. »Sie hatte so fest darauf gebaut.« Sie schaute mich an. »Es würde ihr gut tun, weißt du. Ein Kind. Hat dieser Mann Chancen?«
Ich überlegte mir, dass ich die Sache vielleicht ein wenig beschönigen sollte, wenn ich auf Sigrids Mithilfe beim Aufspüren ihrer Schwester setzen wollte. »Nicht, wenn Ingrid keinen Blödsinn macht«, antwortete ich. »Laut Gesetz kann jeder, der nicht entmündigt ist oder an einer Geisteskrankheit leidet, Vormund sein. Dass der Adoptivvater im Gefängnis sitzt, macht an sich nichts aus. Sie hat das Jugendamt auf ihrer Seite, alles spricht für sie, aber die endgültige Entscheidung ist noch nicht getroffen. Sie muss also sehr vorsichtig sein.«
»Ich verstehe das alles nicht so richtig.«
»Nein? Ich glaube nicht, dass der Richter jemanden positiv einschätzen wird, der Hals über Kopf und in heller Aufregung mit einem Kind flüchtet, noch bevor er eine Entscheidung über die Vormundschaft fällen konnte.« Ich schaute ihr wie ein aufrichtig besorgter Nachbar in die blauen Augen. »Oder was meinst du?«
Sigrid schwieg bestürzt.
»Deshalb suche ich Ingrid. Wenn sie
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