Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
für die ganze Situation schlechthin. Die Norne hatte davon gesprochen,
daß alle Tode auf der Welt aufgehalten würden, bis er, der neue Amtsinhaber, seine Aktivitäten
aufgenommen hätte. Das beantwortete auch seine Frage nach Terminen, die zu dicht nebeneinander
lagen: Er würde den einen Fall einfrieren können, während er sich um den anderen kümmerte. Und
das gab ihm natürlich auch die Möglichkeit einer Erholungspause. Er konnte seine Arbeit einfach
liegenlassen, während er schlief oder aß oder über die Sache nachdachte.
Was für eine Uhr! Sie bestimmte nicht nur den Zeitpunkt bereits existierender Ereignisse, sie
zwang den Ereignissen auch ihren Zeitplan auf.
Zane sah, daß er bis zu seinem nächsten Termin nur zwei Minuten hatte, die zusätzlichen
dreiundzwanzig Sekunden nicht eingerechnet, und der grüne Stein zeigte an, daß sein Ziel die
halbe Welt von ihm entfernt lag. Das war doch ein wenig gedrängt. Er drückte auf den
Rückstellknopf - tatsächlich, die Zeiger ruckten mehrere Minuten zurück, so daß er nun volle zehn
Minuten hatte. In dieser Zeit, das wußte er inzwischen, würde ihn der Todeswagen an jeden Ort der
Erde bringen können. Wozu war denn dann die Stundenanzeige? Sie konnte bis zu zwölf Stunden
anzeigen, aber wenn er die Zeit immer nur höchstens zehn Minuten zurückstellen konnte, würde er
die Stunden nie abzulesen brauchen.
Zane beschloß, später darüber nachzudenken. Im Augenblick mußte er erst mal klar Schiff machen.
Zum einen mußte er sich überlegen, was er mit der Säuglingsseele tun sollte. Er würde sie nicht
in die Hölle schicken, war aber möglicherweise auch nicht dazu befugt, sie in den Himmel zu
befördern.
Wahrscheinlich war es besser, sie zu einem Expertengutachten ins Fegefeuer zu senden. Er ging
davon aus, daß das Fegefeuer, wenn Himmel und Hölle schon wirklich waren, ebenso existierte -
aber wo?
»Ach, ich weiß so vieles nicht!« rief er.
»Auch das wird vergehen«, antwortete eine Stimme.
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3. Kapitel
Mutterschafe und Hirschkühe
Zane erschrak. Auf dem Nebensitz befand sich ein Mann. Er war vielleicht um die fünfzig, mit
Schnauzer und spitzem Kinnbart sowie stechenden blauen Augen. In der Hand hielt er einen
Doppelkegel.
»Sie müssen unsterblich sein«, sagte Zane nach kurzem, fieberhaftem Nachdenken.
»In gewissem Sinne«, stimmte der Mann zu. »Ich bin auch eine Inkarnation, wie das Schicksal und
der Tod.«
Zane studierte ihn. Er rechnete eigentlich damit, den Mann zu erkennen, aber es gelang ihm nicht.
»Wer...«
»Ich bin Chronos, landläufig auch als Zeit bekannt.« Er drehte die Kegel um, und feiner Sand
rieselte von einem in den anderen. Es war eine Sanduhr.
»Die Zeit!« rief Zane. »Aber Sie sind so jung!« Nur daß das ungenau war. »Jedenfalls nicht
alt...«
»Ich bin alterslos«, berichtigte Chronos ihn. »Ich weiß zwar, daß mich unwissende Künstler als
uralt dargestellt haben, aber ich ziehe es vor, auf dem Höhepunkt meiner Kräfte zu
operieren.«
»Habe ich... die Uhr...?«
»Ja, Tod, Sie haben mich gerufen. Ich habe natürlich mit allem zu tun, was in den Bereich der
Zeitmessung fällt, vor allem mit jener, die von Schlüsselfiguren praktiziert wird. Sie haben mich
gerufen, indem Sie den Countdown auf zehn Minuten gestellt haben. Normalerweise friert der Tod
die Zeit dort ein, wo sie gerade ist, oder er stellt sie zurück, um genügend Reisezeit zu
gewinnen; beides ist ein Kode. Natürlich kam ich vorbei, um nachzusehen, was Sie wünschen, denn
wir Inkarnationen versuchen immer, einander zu unterstützen. Schließlich sind wir alle am
gleichen Firmament.«
»Ich wußte nicht, daß ich Sie damit rufen würde«, sagte Zane verlegen. »Ich bin noch neu. Um
ehrlich zu sein, ich wußte gar nicht so recht, daß Sie als Person existieren.«
»Als Personifikation«, berichtigte Chronos ihn wieder.
»Als Inkarnation einer essentiellen Funktion der Existenz. Die Personen wechseln, aber die Rolle
bleibt.«
»Das ist noch so etwas, an das ich mich erst mühsam gewöhnen muß, daß nämlich Dinge wie der Tod
oder die Zeit Ämter sind und keine physikalischen Gesetze oder was auch immer.«
»Wir sind Rollen und Ämter und Gesetze und noch mehr als das«, versicherte Chronos. »Wir sind
auch Menschen, und diese menschliche Eigenschaft ist wichtig.«
»Ich habe gerade versucht festzustellen, wie diese Uhr funktioniert. Der Stundenzeiger scheint
gar keine Funktion zu haben.«
»Der zeigt die Zeit an, die Sie
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