Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
hinter Ihrem Soll hinterherhinken«, erklärte Chronos freundlich.
»Sie haben Ihren nächsten Klienten um sieben Minuten und siebenunddreißig Sekunden zurückgesetzt;
außerdem haben Sie das gesamte Programm eingefroren. Das ist natürlich Ihr Vorrecht, schließlich
sind Sie der Tod. Sie können sogar die gesamte Zeit anhalten, indem Sie den Mittelknopf
betätigen. Aber wenn Sie das länger als eine halbe Stunde tun, zeigt die Stundenskala dies als
Aufholbedarf an. Wenn Sie mehr als zwölf Stunden hinterherhinken, was die Kapazität der Uhr
übersteigt, gibt es eine Untersuchung der Behörden im Fegefeuer, die sich negativ in Ihrer
Leistungsbilanz niederschlagen könnte.«
»Ach ja? Was passiert mir denn, wenn meine Bilanz negativ ist?«
»Das zählt als Böses in Ihrer Seele, wodurch das Gleichgewicht in Richtung Hölle verschoben wird.
Natürlich befinden Sie sich in Ihrer Einweihungsphase noch in vollkommenem Gleichgewicht;
schließlich benötigt jeder neue Amtsinhaber etwas Zeit, um sich einzuarbeiten. Aber wenn die
vorüber ist, wie auch dann, wenn Sie Ihr Amt niederlegen, aus welchem Grunde auch immer, könnte
eine negative Einstufung Ihrer Seele sehr viel Pein bescheren.«
Zane begann zu begreifen: Er hielt zwar das Amt des Todes inne, blieb aber dabei noch am Leben,
und auch die Bilanz seiner Seele mußte noch irgendwann beglichen werden.
»Mein Vorgänger... wohin ist denn seine Seele gegangen?«
»Er hat alles in allem effiziente Arbeit geleistet; ich bin überzeugt davon, daß er seinen Weg in
den Himmel gefunden hat, der das letzte Refugium der Effizienz ist.«
Das beruhigte Zane etwas. »Und wenn ich gute Arbeit leiste, komme ich irgendwann auch in den
Himmel - wenn die Zeit kommt?«
»Wenn sie kommt. Ja, das sollten Sie eigentlich. Da Sie Ihr Amt in einem ausgeglichenen Zustand
angetreten haben und die Arbeit recht geordnet verläuft, sollte es für Sie nicht schwer sein,
Ihre Position zu verbessern.«
»Woher wissen Sie denn, daß meine Seele ausgeglichen ist?«
»Wäre sie es nicht, so hätte der Tod nicht persönlich zu Ihnen kommen müssen.«
Zane lachte. »Wissen Sie, daran habe ich noch gar nicht gedacht! Gut und Böse in mir waren
ausgewogen, also mußte der Tod, als ich meinen Selbstmordversuch unternahm, persönlich
vorbeikommen, um mich zu holen. Und wenn ich ihn nicht hätte kommen sehen, wäre ich jetzt
tot!«
»Es ist eine ungewöhnliche Situation«, pflichtete Chronos ihm bei. »Aber gleichzeitig doch auch
völlig normal. Jeder Tod tötet seinen Vorgänger und belastet damit seine Seele mit einer weiteren
bösen Tat, schiebt dadurch aber seine eigene Abrechnung auf unbestimmte Zeit hinaus. Ich beneide
Sie nicht gerade um Ihr System.«
»Ist Ihres denn anders?«
»Aber gewiß doch! Jedes Amt besitzt seine eigenen Übergangsmodalitäten, und manche davon sind
sanfter als andere. Aber wir alle arbeiten so zusammen, wie es gefordert ist, und zollen dem Amt
des anderen den gebührenden Respekt. Ich fühle mich dem vorangegangenen Tod verpflichtet, der mir
mal einen Gefallen getan hat, und bedaure, daß er sein Amt aufgeben mußte. Jetzt will ich seinem
Nachfolger den Weg ein wenig ebnen helfen, so wie es auch sein Wunsch gewesen wäre.«
»Dann haßt er mich also nicht?« fragte Zane verwundert.
»Im Himmel gibt es keinen Haß.«
»Aber ich habe ihn doch ermordet!«
»Und werden Ihrerseits von Ihrem Nachfolger ermordet werden. Hassen Sie den etwa?«
»Meinen Nachfolger hassen? Aber ich kenne ihn doch überhaupt nicht!«
»Ihr Vorgänger hat Sie auch nicht vorher gekannt. Sonst wäre er vorsichtiger gewesen.«
Zane wechselte das Thema. »Ich habe gerade einen Säugling geholt. Er ist völlig ausgeglichen, ein
einheitliches Grau. Ich weiß weder, wieso er soviel Böses in seiner Seele aufweisen kann, so
vollständig integriert, noch was ich mit der Seele tun soll. Könnten Sie mir einen Rat
geben?«
»Ich kann die Angelegenheit erhellen helfen. Der Säugling ist wahrscheinlich das Produkt eines
Inzest oder einer Vergewaltigung, so daß die Bürde einer verstärkten Erbsünde auf ihm lastet.
Solche Kinder, die im Bösen gezeugt wurden, beginnen das Leben nicht mit einer reinen
Seele.«
»Erbsünde!« rief Zane. »Ich dachte immer, das wäre eine Lehre, die schon längst nicht mehr
anerkannt ist.«
»Kaum. Mag sein, daß sie in den nichtchristlichen Teilen der Welt nichts gilt, aber hier ist sie
durchaus noch wirksam. Der Glaube ist eine Grundlage der Existenz,
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