Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
Nacht- und trat in die Tagzone ein
und bemerkte, daß er seinen Job am Abend angetreten hatte. Als er seine erste Klientin in
Anchorage bedient hatte, war es später Nachmittag gewesen, während sein zweiter Klient in Phoenix
wiederum am Abend behandelt worden war. Die Welt drehte sich unabhängig von seinem Handwerk
weiter, während er in den Tag hinein- und wieder aus ihm herausjagte.
Einen Augenblick später war Land zu sehen. Der Wagen verminderte sein Tempo, als er darauf
zuschoß, dann rollte er einen kurzen Strand entlang, durch eine Siedlung von zwanzigstöckigen
Gebäuden voller Eigentumswohnungen im modernistischen Stil. Dann fuhr er durch - nicht um einen
Gebirgszug, an einem Dorf vorbei, das mit weißgekalkten Häusern ein Tal ausfüllte, durch einen
Olivenhain, vorbei an weidenden Pferden hinaus auf ein offenes Feld. Nun befand er sich in der
Nähe seines Klienten. Er wußte nicht, weshalb ihn der Hyperantrieb nie ganz präzise ans Ziel
brachte; vielleicht war die Genauigkeit auf großen Strecken nicht so groß.
Wahrscheinlicher war, daß dadurch die Anonymität des nahenden Todes gewährleistet blieb: Es würde
den Leuten schwerfallen, einen Wagen zu ignorieren, der plötzlich an einem Unfallort
materialisierte. Die Magie hatte auch ihre Grenzen, deshalb war es das Klügste, sie nicht
allzusehr zu forcieren.
Mit Hilfe des Auges und des Pfeils näherte er sich seinem Ziel und hatte schließlich noch eine
Minute übrig. Er befand sich vor einem heruntergekommenen Bauernhaus inmitten von verdorrten
Feldern. Diese Familie war mit Armut geschlagen.
Er öffnete die Tür und trat ein. Er überlegte, ob er hätte anklopfen sollen, doch er gelangte zu
der Meinung, daß wohl niemand sonderlich gerne dem Tod die Tür öffnen würde.
Hier herrschte gerade Morgendämmerung; er hörte die Familienmitglieder, wie sie einander
anschrien, während sie schläfrig umherstolperten und sich in dem eisigen Haus organisierten. Sein
linkes Ohr fing die gedolmetschten Worte auf, denn natürlich sprach man hier nicht Zanes
Muttersprache.
Die Leute beschwerten sich über den kalten Morgen, über das mangelhafte Frühstück, und über den
Boden huschte eine Ratte.
Zanes Steine führten ihn ins Schlafzimmer. Dort saß die Frau auf der Bettkante, einen
unglücklichen Ausdruck im Gesicht, während sie versuchte, schwere, undurchsichtige Strümpfe
anzuziehen. Sie hatte ein Bein gehoben, das Knie gebeugt, so daß er ihre Schenkel deutlich
erkennen konnte. Schockiert nahm er wahr, daß sie fast völlig von einer roten Entzündung bedeckt
waren. Tatsächlich sah die Frau krank aus; ihr Gesicht war gerötet, ihr Haar strähnig und wirr.
Als sie eine Grimasse zog, waren ihre verfärbten, möglicherweise verfaulten Zähne zu erkennen. Es
war eine junge, halbwegs gut gebaute Frau, doch ihr schlechter Gesundheitszustand machte sie
abstoßend.
Ihre Augen wiesen derart tiefe Schatten auf, daß es fast den Anschein hatte, als wären sie blau
geschlagen worden. Da bemerkte Zane, daß hier tatsächlich Gewaltanwendung stattgefunden hatte:
Überall, wo ihr Fleisch zu sehen war, war es von Schrammen und Blutergüssen übersät.
Vielleicht war der Tod wirklich eine Gnade für sie. Sie war offensichtlich in einem erbärmlichen
Zustand.
Doch der Pfeil zeigte nicht auf die Frau. Er wies vielmehr auf die Krippe am anderen Ende des
Raums, wo ein kleiner Säugling zusammengerollt lag.
Ein Baby? Wie konnte er ein Baby holen?
Zane schritt an der Frau vorbei, die ihn nicht weiter beachtete, und beugte sich über die Krippe.
Der Säugling hatte seine ohnehin ungenügende Decke während der Nacht abgeworfen und lag nun, der
Kälte ausgesetzt und feucht, mit dem Gesicht nach unten, die Haut blau verfärbt. Er würde,
erkannte Zane, im Kindbett sterben.
Doch was war denn dann mit der Fünfzig-zu-fünfzig-Regel, der seine Klienten unterworfen waren?
Die meisten Menschen starben und wurden von ihrer Seele getrennt, ohne daß er dabei direkte Hilfe
leistete. Nur jene, die ihre Seele derart mit Bösem befrachtet hatten, daß ihre Erlösung
zweifelhaft war, bedurften der persönlichen Dienstleistung des Todes.
Ein Säugling war schon fast per definition unschuldig; folglich sollte seine freigesetzte
Seele auch glückselig zum Himmel emporschweben.
Und doch bestand kein Zweifel daran, daß dieser Säugling hier sein Klient war. Es war soweit.
Zane griff hinab und enthakte die kleine Seele.
Die Mutter des Kindes, die mit ihren
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