Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
blieben ihm noch dreißig Sekunden.
Er schritt auf das Haus zu. Die beiden Greife breiteten die Schwingen aus und erhoben sich mit
hervorschnellenden Klauen, die dünnen Dolchen glichen, mit schimmernden Schnäbeln in
Angriffsstellung. Aus ihren Hälsen ertönte eine Art schreiendes Knurren.
Zane zog den Todesumhang fester um sich und hob die Sense. Die Greife wichen vor der
schrecklichen Schneide zurück. Er ging auf sie zu und blickte sie wütend durch die schmalen
Öffnungen in seiner Kapuze an.
Das gab ihnen den Rest. Diese Ungeheuer mochten zwar nichts Lebendiges furchten, doch alle Wesen
fürchteten den Tod, wenn sie ihn erkannten.
Als seine Uhr das Zeitsignal gab, trat Zane in das größte Zimmer des Hauses. Dort saß ein alter
Mann in einem bequemen Sessel.
»Halt ein, Tod«, sagte der Mann. »Ich wünsche mit dir zu sprechen.«
»Ich bin schon spät dran«, murrte Zane. Er war nicht mehr so erstaunt wie beim ersten Mal, daß
Menschen ihn sehen und direkt ansprechen konnten. Es war offensichtlich, daß jeder dies konnte,
der wirklich mit ihm zu sprechen wünschte.
Der Mann lächelte. »Ich muß dir mitteilen, daß ich ein Magier des zweiunddreißigsten Grads bin,
dessen Name du nicht erkennen würdest, weil meine Magie nämlich meine Anonymität schützt. Ich
kann deine Hand bremsen - o ja, Tod, sogar die deine! -, zumindest für eine Weile. Aber es ist
nicht mein Wunsch, dir Widerstand zu leisten, ich möchte lediglich einen Augenblick mit dir
reden. Lege deine Waffe beiseite, und gewähre mir eine Zeitlang deine Aufmerksamkeit, dann will
ich mich mit etwas von weitaus größerem Wert erkenntlich zeigen.«
»Willst du etwa den Tod bestechen?« fragte Zane, halb zornig, doch zu Zweidritteln auch
neugierig. Er klappte die Sense zusammen und lehnte sie neben der Tür gegen die Wand. »Was
könntest du mir schon bieten?«
»Ich habe dir bereits mehr gegeben, als du zu wissen verkraften würdest«, sagte der Magier. »Aber
ich will mein Angebot knapp zusammenfassen. Halte deine Uhr an, und wenn du nach fünf Minuten
nicht weiter mit mir zu sprechen wünschst, so werde ich dir meine Seele mit Würde übergeben. Im
Gegenzug biete ich dir die Hauptoption auf die Liebe meiner Tochter.«
Das gefiel Zane gar nicht.
Die Verbitterung über seinen Verlust Angelicas an den Ladenbesitzer war noch nicht völlig
verraucht.
»Was hat der Tod für eine Verwendung für eine Frau, welche es auch immer sein mag?« versetzte
er.
»Hinter deiner Todesmaske bleibst du doch ein Mann. Nicht einmal der Tod lebt von Seelen
allein.«
»Was soll ich von einem Mann halten, der seine eigene Tochter verkaufen würde, nur um einige
wenige Minuten weiterleben zu können?« fragte Zane angewidert.
»Vor allem von einem Mann, der sie ausgerechnet an jenen Mann verkaufen würde, der seine eigene
Mutter getötet hat«, stimmte der Magier ihm zu.
Zane drückte auf den STOPP-Knopf und brachte den ohnehin schon überzogenen Countdown zum
Stehen.
»Du hast meine Aufmerksamkeit, Magier«, preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen
hervor.
»Ich werde sie herbeirufen«, sagte der Mann. Er klopfte mit einem knorrigen Finger gegen seine
Sessellehne. Es klang wie eine kleine Glocke.
Das hatte Zane zwar nicht gemeint, doch er schwieg. Der Magier war offensichtlich ein
komplizierter, wissender Mann, der Zanes Vergangenheit erforscht hatte. Zane hatte zwar keine
Ahnung, weshalb er seine Tochter mit ins Spiel bringen wollte, aber das war schließlich die
Angelegenheit des Magiers selbst.
Vielleicht war das Mädchen so unansehnlich, daß sie ohnehin niemand ausnutzen würde.
Das Mädchen kam ins Zimmer. Sie war nackt. Das Haar hatte sie unter einer Badehaube
zusammengebunden; offenbar kam sie gerade aus einer Luftdusche. Ihr Körper war schlank und
wohlgeformt, aber nicht spektakulär. Sie war einfach nur eine normale, gesunde junge Frau von
vielleicht zwanzig Jahren.
»Was gibt es, Vater?« fragte sie mit sanftmelodischer Stimme.
»Ich habe dieser Person deine Liebe angeboten, Luna«, sagte der Magier und zeigte dabei auf
Zane.
Sie blickte sich verwundert um. »Welcher Person?«
»Du kannst ihn erkennen, wenn du es versuchst. Es ist der neue Tod.«
»Der Tod!« rief sie in leichtem Entsetzen aus. »So früh schon?«
»Er ist nicht zu dir gekommen, meine Liebe, sondern zu mir, und ich werde in Kürze mit ihm gehen.
Aber ich wollte, daß du ihn kennenlernst, bevor ich ihm den Liebeszauber mit deinem Namen
gebe.«
Sie
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