Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
Identität sauber getrennt, doch hier zu Hause können wir uns ein wenig loslassen.
Aber was deine Frage angeht: Chronos beherrscht die Zeit. Er kann seinen eigenen Zeitstrom
umkehren, um mit anderen zu reden, er kann aber auch ihren Lebensstrom umkehren, damit es
parallel zu seinem läuft. Zumindest für kurze Zeit. Jedenfalls bedeutet die Unsterblichkeit nicht
auch Vollkommenheit, und wir Inkarnationen langweilen uns auch manchmal in unseren Ämtern oder
werden ihrer überdrüssig, so daß wir sie aufgeben. Nur in der Sterblichkeit kann das wahre
Pulsieren des Lebens erfahren werden. Theoretisch könnte zwar eine von uns durchaus ewig leben,
aber es ist noch nie geschehen, außer im Falle Gottes und Satans, und was Satan angeht, so bin
ich mir da nicht einmal völlig sicher.«
Alles schien einzuleuchten, dennoch konnte Niobe noch immer nicht die Vorstellung ertragen, daß
alles unausweichlich gewesen sein sollte. »Hätte es dem Gesamtgewebe wirklich so sehr geschadet«,
fragte sie und übernahm nun, wie Atropos es ihr empfohlen hatte, die Kontrolle über den Mund,
ohne den restlichen Körper mit einzubeziehen, »wenn Cedric weitergelebt hätte?«
Atropos verwandelte sich in Lachesis.
»Das ist mein Gebiet, Niobe«, erklärte sie. »Ich bemesse die Lebensfäden, was bedeutet, daß ich
ihre ungefähre Länge und ihren Verlauf bestimme. Ich webe das Ganze nicht wirklich - das ist viel
zu kompliziert, als daß ein einzelner Geist dazu fähig wäre -, aber ich ordne die Fäden dem
Gesamtmuster entsprechend an und sorge dafür, daß sie sich richtig einfügen. Die Sterblichen
neigen dazu, das Schicksal für ihr Scheitern verantwortlich zu machen, ihre Erfolge aber
schreiben sie ihm nicht gerne zu - das ist zwar ärgerlich, doch tatsächlich ist mein
Handlungsspielraum beschränkt. Das Gesamtmuster wird bestimmt durch den Kompromiß zwischen Gott
und Satan, durch das makrokosmische Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, und wir anderen
Inkarnationen stützen dieses Gleichgewicht lediglich so gut wir können.
Sicherlich hätte es keinen Schaden angerichtet, wenn dein geliebter Mann weitergelebt hätte. Er sollte ja eigentlich auch leben. Doch dann waren wir dazu gezwungen, deinen Faden mit
seinem auszutauschen und dann mußten wir auch diesen beseitigen, denn du zählst jetzt nicht mehr
zu den Sterblichen, wenngleich sie nichts von deinem Fortgehen merken. Ich will es dir
zeigen.«
Lachesis machte eine Geste, und der Spiegel umwölkte sich, um schließlich eine
ehrfurchtgebietende Szene freizugeben. Er zeigte ein unglaubliches Muster in leuchtenden Farben,
ein Webteppich, so groß wie die Welt, mit Abertausenden von Fäden, wie Sterne am nächtlichen
Himmel, die ein derart wunderbar kompliziertes Muster bildeten, daß der Geist des Betrachters
davon wie benommen wurde. Noch nie hatte Niobe einen solch prachtvollen Webteppich gesehen, wie
verzaubert starrte sie ihn an.
»Dein Faden und Cedrics befinden sich ungefähr hier«, sagte Lachesis und zeigte mit dem
Spinnrocken auf einen Abschnitt, der sich plötzlich ausdehnte, um mehr Einzelheiten preiszugeben.
Die farbige Linie, auf die Lachesis zeigte, wurde zu einem mächtigen Strom aus einzelnen Fäden,
die immer größer wurden, bis schließlich die individuellen Lebensfäden zu erkennen waren, wie
Kabel, jedes in seinem eigenen Gebiet. »Auf dieser Seite ist die Zukunft und auf dieser hier die
Vergangenheit«, fuhr Lachesis fort. »Die Gegenwart ist der genaue Mittelpunkt des Bildes. Wie du
siehst, bewegt er sich.«
Tatsächlich schienen die Kabel in die »Vergangenheitsseite« zu reisen, so daß der Mittelpunkt
sich ständig in Richtung Zukunft verschob, ohne sich tatsächlich zu bewegen. Der Webteppich war
wie ein strömender Fluß. Lachesis zeigte auf zwei Kabel in der jüngeren Vergangenheit. Diese
kamen aus verschiedenen Teilen des Webteppichs zusammen und verbanden sich, um sich umeinander zu
winden.
»Deine Heirat mit Cedric«, sagte Lachesis. Die beiden fuhren fort, teilten sich ein wenig, um die
Zeit anzuzeigen, da er aufs College gegangen war, und sich wieder zu berühren, wenn sie ihn dort
besucht hatte. An einer Stelle leuchtete ein Funken auf, und Niobe errötete im Geiste, als ihr
klar wurde, daß dies ihr erster Liebesakt gewesen war, ein bedeutsamer Abschnitt in ihrer
gemeinsamen Beziehung. Dann, ein kleines Stück weiter, begann ein weiterer neuer Faden, der mit
den ihren verbunden war: Juniors Zeugung oder Geburt.
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