Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
sie reine »Lesefäden« zwischen ihren
Fingern erzeugen konnte, um individuelle Leben punktuell zu überprüfen, wenngleich sie nur einen
Bruchteil der Einzelheiten in Erfahrung bringen konnte, die Lachesis zur Verfügung standen; das
war eine Fähigkeit, die abhängig vom jeweiligen Aspekt der Schicksalsgöttin und der eigenen
Erfahrung war. Sie lernte, wie sie sich bei besonderen Gelegenheiten in eine Spinne verwandeln
konnte. Als Schicksalsgöttin hatte sie einen inneren Bezug zu den Weberinnen, und keine Spinne
weigerte sich, sie in ihr Netz zu lassen oder in ihr Jagdrevier. Tatsächlich waren Spinnweben
sehr praktische Landeplätze, wenn sie reiste. Sie konnte viel schneller als jede Spinne von einem
zum anderen gelangen und dann wieder menschliche Form annehmen, je nachdem, welche Aufgabe ihre
Aufmerksamkeit verlangte.
Mit der Zeit wurde sie selbstsicherer. Sie mochte zwar wie eine schwache Frau aussehen, doch ein
unsichtbares Gespinst umhüllte sie und machte sie gegenüber jedem Sterblichen unangreifbar. Sie
erfuhr, wo sich das Verwaltungsgebäude des Fegefeuers befand und wer dort zum wichtigsten
Personal gehörte. Das waren keine Inkarnationen, sondern verlorene Seelen - Menschen, bei denen
Gut und Böse so genau ausgewogen waren, daß sie weder in den Himmel noch in die Hölle gehörten.
Sie wirkten wie ganz gewöhnliche Leute, was sie ja auch waren, und völlig feststofflich und
greifbar, was sie allerdings nicht waren. In Wirklichkeit waren es Gespenster, die nur hier im
Fegefeuer handlungsfähig waren.
Und sie lernte, Seelen zu spinnen.
Doch zuerst mußte sie das Rohmaterial der Seelen besorgen, und das war nicht leicht. »Das
befindet sich in der Leere«, erklärte Lachesis.
»In der Leere?«
»Wir nennen es auch das Nichts. Am Anfang war die Erde formlos und leer. Gott erschuf die Welt
aus der Leere, und so entstand die Wirklichkeit, wie wir sie kennen. Doch dabei wurde nicht die
gesamte Leere aufgebraucht. Was übrigblieb, befindet sich am Rand des Fegefeuers, und dorthin
kann sich niemand begeben außer dir.«
»Außer mir?«
»Als Clotho. Nicht einmal wir beiden anderen Aspekte der Schicksalsgöttin können dorthin; dort
verlieren wir die Orientierung. Dies ist die einzige Reise, die du ganz allein durchführen
mußt.«
»Aber ich bin doch noch so neu hier! Ich weiß so wenig von allem! Ich kann nicht...«
»Es gibt sonst niemanden dafür«, warf Lachesis ein. »Mach dir keine übermäßigen Sorgen, es ist
keine gefährliche Reise. Sie ist lediglich einzigartig.«
Sie mußte es tun, es gehörte zu ihren Amtspflichten. Lachesis führte sie an den Rand des
Fegefeuers. Dort sah es recht normal aus und war es auch - doch war es auch die Grenze, jenseits
derer für jeden anderen Gefahr lauerte.
»Und du und Atropos werden nicht einmal im Geiste bei mir sein?« fragte Niobe verunsichert.
Wir werden zwar bei dir sein, aber unbewußt, erwiderte
Lachesis in Gedanken, denn sie befanden sich nicht mehr in ihrem Heim. Es hätte einen äußerst
seltsamen Eindruck gemacht, wenn ein anderer mitangehört hätte, wie sie sich mit sich selbst
unterhielt.
Unser Geist kann die Leere nicht ertragen. Aber wir wissen, daß deiner es kann, denn Daphne
ist viele Male dorthin gegangen. Sie hat uns erzählt, daß es mit jedem folgenden Mal leichter
wurde.
»Ja, das erste Mal ist meistens das schlimmste«, stimmte Niobe matt ein. »Und ich muß mitten
hinein?«
Ja, du mußt in ihre Mitte hinein. Nur dort ist die Essenz rein. Vergiß nicht, den Faden zu
spinnen.
Damit sie wieder den Weg zurückfand. Diesmal würde ein vorübergehender, verblassender Reisefaden
nicht genügen, sie mußte sich am Faden des Lebens selbst orientieren. Bestimmt würde sie diese
Einzelheit nicht vergessen!
Sie schritt den Weg entlang. Wenn ohnehin niemand diesen Punkt überschreiten konnte, für wen war
dann dieser Weg?
Manche überschreiten ihn doch, erwiderte Lachesis, schon etwas schwächer werdend. Es
ist eine Frage unterschiedlicher Widerstandskraft. Doch du mußt dort hingehen, wo niemand anders
hingeht.
»Ach ja? Wer benutzt diesen Weg denn noch?«
Einige der anderen Inkarnationen.
Nun mußte sich Niobe schon sehr anstrengen, um den immer schneller verblassenden Gedanken
aufzufangen. Mars, Gäa ... da war er auch schon verschwunden.
Niobe schritt weiter, und aus dem breiten Weg wurde ein schmaler Fußpfad, der durch einen dichten
Wald führte. »Die Inkarnation des Kriegs«, murmelte sie bei sich.
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