Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
als die großen Kuhmolkereien sich
durchsetzten, wenngleich sich ihre Milch von der Qualität her mit unserer nicht messen konnte.
Ich hieß ihn, den Ertrag in eine Möbelfabrik zu investieren. Doch hatte man uns über deren
wirtschaftliche Perspektiven getäuscht, und sie ging bankrott, so daß wir die Ersparnisse unseres
ganzen Lebens verloren. Mein Mann wurde krank, bekam die Schwindsucht, dann eine
Lungenentzündung. Er starb vom Leben enttäuscht, und ich wußte, daß es meine Schuld gewesen war.
Ich hätte ihn nicht beeinflussen dürfen.
Doch es hatte mir schon immer gelegen, mich in das Leben anderer einzumischen, und als die
Schicksalsgöttin zu mir kam und mich fragte, ob ich mich einmal so richtig einmischen
wollte nun, so bin ich hierhergekommen! Ich bin schon fünfzehn Jahre dabei und bin auch ganz
zufrieden damit. Und ich glaube, daß ich das Leben der Menschen nicht völlig willkürlich
beende.«
Aber ist es nicht der Tod - also Thanatos -, der das Leben der Menschen beendet? fragte Niobe in Gedanken.
Wenn sie den Körper nicht zur Verfügung hatte, konnte sie nicht laut sprechen.
»Thanatos sorgt dafür, daß die Seelen jener, die sterben, an ihren entsprechenden Bestimmungsort
gelangen, in den Himmel, in die Hölle oder ins Fegefeuer. Er muß das Verhältnis von Gut und Böse
in jeder Seele abwägen, und um die schwierigen Fälle muß er sich persönlich kümmern. Aber ich bestimme darüber, wann ein Leben endet; ich beschneide den Faden.«
Du hast Cedrics Lebensfaden beschnitten?
»Das mußte ich tun, er hatte dafür gesorgt, daß er die Stelle jenes Fadens einnahm, den ich
abschneiden sollte, deshalb blieb mir keine andere Wahl. Ich bin nicht völlig frei in meinen
Entscheidungen, vor allem dann nicht, wenn es zu Veränderungen im bestehenden Gewebe kommt. Ich
handele nicht willkürlich und nach Laune. Ich muß mich im Rahmen bestimmter Regeln halten, damit
kein Faden übermäßig lang wird oder zu kurz endet. Sonst würde dies das Gesamtgewebe
durcheinanderbringen.«
Aber warum überhaupt Schicksalsfäden? wollte Niobe wissen. Warum läßt man die guten
Menschen nicht einfach weiterleben?
Atropos lächelte müde.
»Kind, das ist ein typischer Denkfehler der Sterblichen. Sie glauben, daß der Tod der Feind ist
und daß alles in Ordnung wäre, wenn sie nur ewig leben könnten. Es stimmt einfach nicht; das
Alter muß vergehen, damit das Junge entstehen kann. Keiner von uns würde heute existieren, wenn
unsere Vorfahren nicht für uns Platz gemacht hätten. Deshalb bekommt jeder Lebensfaden seine ihm
angemessene Spanne, wobei manche länger sind als andere, und jeder muß so enden, wie er beginnt,
nämlich dem Muster des Gesamtgewebes entsprechend. Ich schneidere lediglich die individuellen
Fäden zum Wohle des Gesamtgewebes, zum Guten des Ganzen. Es obliegt keinem einzelnen Faden, über
seine eigene Stellung in dem Gewebe zu entscheiden! Es wäre eine Katastrophe, ewig zu
leben!«
Was ist denn mit den Inkarnationen?
»Die Inkarnationen sind unsterblich, aber nicht auf alle Zeiten«, erklärte Atropos geduldig. »Wir
führen unser Leben, ohne zu altern, solange wir unsere Ämter innehaben, aber das tun wir nicht in
Ewigkeit.
Wir haben unterschiedliche Dienstspannen.
Deine Vorgängerin Daphne diente sechsundzwanzig Jahre, wodurch sie ihr sterbliches Leben
verdoppelte bis sie eine Situation erspähte, die ihr zu verlockend erschien, um ihr widerstehen
zu können. Sie fand einen guten Mann - für einen guten Mann spricht so einiges! -, und er
brauchte eine gute Frau, die er sonst nicht bekommen hätte -, und so mußte sie ihn einfach haben.
Aus diesem Grund hat sie das Amt niedergelegt. Nun wird sie normal altern, bis ich oder meine
Nachfolgerin ihren Faden beschneiden, und dann gelangt sie ins Jenseits. Ähnlich verfahren die
anderen Inkarnationen, jede auf ihre Art. Thanatos stirbt, sobald er unvorsichtig wird und von
seinem Nachfolger getötet wird. Chronos tritt sein Amt als Erwachsener an und lebt rückwärts, bis
zur Stunde seiner Geburt oder seiner Zeugung - ich bin mir nie ganz sicher gewesen, welches von
beiden...«
Rückwärts?
Dies war eine Bestätigung dessen, was sie schon vermutet hatte.
Wie kann er da Beziehungen zu anderen unterhalten?
»Wenn du hier in unserem Heim sprechen willst, dann übernimm einfach die Kontrolle über den
Mund«, riet ihr Atropos. »Wenn wir in Gesellschaft anderer sind, halten wir die verschiedenen
Aspekte unserer
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