Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
Inkarnationen teilweise anders zugeht - obwohl es dafür eigentlich kein Gesetz gibt, nur
überlieferte Bräuche - aber wir Frauen sind da entgegenkommender.
Wenn du dich entschließen solltest, sterblich zu bleiben, wirst du in dein früheres Leben
zurückkehren, und dann suchen wir uns eben eine andere Frau aus. Aber ich gestehe, daß wir dich
mögen, und zwar nicht nur wegen deiner Schönheit. Es ist sehr selten, daß ein sterblicher Mensch
den Mut aufbringt, sich auf eine Weise an Thanatos zu wenden, wie du es getan hast.«
»Ich habe gar keinen Mut!« protestierte Niobe. »Ich mußte es einfach tun.«
»Ach ja? Warum denn?«
»Um den Mann zu retten, den ich liebe!«
»Und für deine Liebe bist du buchstäblich durchs Feuer gegangen. Wenn das kein Mut sein sollte,
so ist es doch eine Charaktereigenschaft, die wir zutiefst respektieren.«
»Und es war alles umsonst!«
»Ja, darin steckt eine gewisse Ironie. Damals konnten wir dir nicht geben, was du begehst, und
jetzt bieten wir dir etwas, was du nicht begehrst. Und doch hat die Sache auch ihre
Vorzüge.«
»Vorzüge?«
»Die Unsterblichkeit solange du willst. Macht soviel du ausüben kannst.
Lebenssinn - denn du wirst die Fäden menschlicher Existenz spinnen. Wir sind das
Schicksal.«
Niobe dachte über die Rückkehr in ihr früheres Leben nach - ohne Cedric. Dann dachte sie an die
Unsterblichkeit, Macht und Lebenssinn und an die Gelegenheit, ihre Rechnung mit Satan zu
begleichen. Zwar hätte sie lieber Cedric gehabt, doch blieb ihr eigentlich keine andere Wahl -
was Chronos ja auch gewußt hatte. Sie war dazu bestimmt, diese Rolle anzunehmen. »Wie trete ich
euch bei?«
»Nimm meine Hand«, sagte Lachesis und reichte ihr die ihre. Niobe nahm die Hand. Sie hatte ein
merkwürdiges Gefühl des Strömens. Sie verspürte gleichzeitig Verlust und Gewinn. Dann sah sie,
daß Lachesis sich in die Gestalt einer jungen, schönen Frau verwandelt hatte, jener Frau, als der
sie ihr im Fegefeuer vorübergehend erschienen war.
Ihre Hände lösten sich voneinander.
»Lebe wohl, Daphne«, sagte Lachesis. »Und sei willkommen, Niobe.«
»Was?«
Niobe blickte an sich selbst herab und entdeckte, daß sie nun aussah wie Lachesis.
Ja, jetzt bist du bei uns, sagte Lachesis lautlos zu ihr.
Dein Körper ist auf Daphne übergegangen - die frühere Clotho. Schweige, dein Tag kommt,
während ihrer zu Ende geht.
Niobe schwieg.
Sie beobachtete, lauschte und spürte, während Daphne sich umdrehte, ihre neue Getrenntheit
überprüfte und sich dann ihnen zuwandte. »Lebt wohl, alte Freundinnen«, sagte Daphne, und ihre
eigenen Augen schimmerten von Tränen. »Und danke, Niobe. Du hast mir mein Leben zurückgegeben.«
Sie breitete die Arme aus, und Lachesis umarmte sie; doch diesmal fand keine
Persönlichkeitsübertragung mehr statt.
Allmählich wurde sich Niobe ihrer neuen Gestalt bewußt.
Lachesis und sie verwandelten sich als Einheit, und so kletterten sie zur Kabinendecke hinauf,
durch diese und das ganze Schiff hindurch, empor in den Himmel, wo sie plötzlich mit großer
Geschwindigkeit an einem dicken Faden über die Welt jagten. Einen Augenblick später glitten sie
in ihr gewobenes Heim im Fegefeuer und nahmen menschliche Formen an.
»Du brauchst nicht alles selbst und allein herauszufinden«, sagte Lachesis.
»Wir werden dich anleiten, wenn es nötig ist und die Routine des Haushaltslebens gehört ohnehin
überwiegend zu meinen Aufgaben. Doch du wirst die Fäden spinnen müssen.«
Als erstes führte Lachesis ihr Atropos vor. Der Körper nahm die Gestalt an, und die alte Frau
stellte sich vor dem Spiegel auf, damit Niobe sie deutlich durch ihrer aller Augen sehen konnte.
Körperlich war Atropos in ihren Sechzigern, sie hatte eisengraues Haar, tiefe Runzeln und eine
übergroße Nase.
Sie sah aus, wie eine ganz gewöhnliche Großmutter.
»Im Alltagsleben befand ich mich auf einer Ziegenfarm«, sagte sie. »Ich half meinem Mann dabei,
die Ziegen zu melken, ich habe gekocht und gewaschen und vier Kinder geboren eines von ihnen
starb im Alter von acht Jahren an den Pocken, aber meine beiden Töchter und der verbliebene Sohn
wurden erwachsen, heirateten und zogen weg. Als sie allein zurechtkamen, fühlte ich mich
irgendwie verstoßen; ich muß gestehen, daß es mir Vergnügen bereitet hatte, ihr Leben zu lenken.
Also richtete ich meine Aufmerksamkeit nun auf meinen Mann und bewegte ihn dazu, die Farm zu
verkaufen der Markt für Ziegenmilch wurde immer kleiner,
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