Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
Fleisch der Schicksalsgöttin, und sie hatte nun ein
neues Leben zu führen. Sie hoffte, daß es besser werden würde als das alte.
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6. Genealogie
Nachdem sie die erforderlichen gefühlsmäßigen Entscheidungen getroffen hatte, gewöhnte sich
Niobe recht gut an ihr Leben als Clotho. Jeder der drei Aspekte der Schicksalsgöttin schlief
sechs oder acht Stunden am Tag, und sie sorgten dafür, daß sie mehr oder weniger klar
abgegrenzten Schichtdienst hatten. So beherrschte eine stets den gemeinsamen Körper, während die
andere geistig bei ihr war und die dritte schlief. Manchmal erforderten außergewöhnliche
Umstände, daß alle drei zugleich wach waren oder schliefen, doch im allgemeinen setzte sich diese
Routine durch.
Niobe mochte die anderen beiden. Sie unterhielten sich recht viel und verglichen ihre Erfahrungen
und Gefühle. Die anderen hatten mitgehört, wie Niobes erste intime Begegnung mit Chronos
verlaufen war, denn dies war für sie ebenso neu gewesen. Sie hatten sich tatsächlich nicht
verschworen, Niobe in diese Lage zu bringen; sie hatten keine Affäre mit Chronos gehabt.
»Aber der Körper ist ja nur der Körper«, meinte Lachesis philosophisch, während Niobe ihren
Lebensfaden aus dem Vorrat sponn, den sie im Nichts beschafft hatte. »Du bist jung, du glaubst
gerne, daß es für jeden Mann nur eine Frau gibt und für jede Frau nur einen Mann, tatsächlich
jedoch sind alle möglichen Kombinationen denkbar, alle können einander lieben und sich paaren. In
diesem Amt sind wir dazu gezwungen, weniger romantisch und eher pragmatisch zu denken.«
»Ja«, stimmte Niobe ihr traurig zu. »Und Chronos ist auch eine gute Person. Aber Cedric werde ich
ewig lieben.«
»Keine Liebe ist wie die erste«, meinte Lachesis und bemächtigte sich wieder der Lippen des
gemeinsamen Mundes.
»Ich kann mich noch an meine erinnern...« Und sie erzählte ihr davon.
In gewissem Umfang lernte jede etwas von der Tätigkeit der anderen. Niobe schlief normalerweise,
während Lachesis die Fäden abmaß, aber nicht immer, und natürlich war sie stets wach, wenn
Atropos sie beschnitt. Das Beschneiden war nicht nur eine Sache des Beendens, denn die Fäden
mußten auch irgendwann begonnen werden. Nachdem Lachesis also jedes potentielle Leben untersucht,
bemessen und markiert hatte, all dies natürlich auf dem endlosen Faden, den Clotho sponn, pflegte
Atropos die entsprechenden Stücke abzuschneiden und zu placieren. Der Beginn eines Fadens war die
Zeugung eines Kindes; er mußte an die Fäden seiner Eltern geknüpft werden, bevor er im
Gesamtgewebe seinen eigenen Lauf fand. Die körperlichen, geistigen und emotionalen Eigenschaften
eines Lebens wurden durch die Erbmasse bestimmt, und ihre Entwicklung unterlag stark dem Einfluß
der Umwelt. Doch die Lebensereignisse - jene seltsamen Zufälle, die das Leben prägte - wurden von
der Schicksalsgöttin bestimmt. Einige Leben mit ausgezeichneten Veranlagungen waren zum Scheitern
und zur Enttäuschung verurteilt, während manche scheinbar schwachen Stränge tatsächlich zur Größe
führten. Lachesis verplante all diese Fäden, wobei sie die Ästhetik des Gesamtbilds im Auge
behielt. Manchmal bedauerte sie es, beispielsweise wenn ein Faden sehr kurz sein mußte, was
bedeutete, daß ein Kind schon in frühem Alter sterben würde. Doch dies mußte getan werden, denn
Belastungen an manchen Stellen des Gewebes konnten das gesamte Ergebnis verzerren, was dazu
führen würde, daß viele andere unschuldige Lebensfäden darunter litten, wenn man an der
entsprechenden Schlüsselstelle die Flickarbeiten unterließ.
Tatsächlich war Cedrics früher Tod nicht wirklich Lachesis' Schuld gewesen. Satan hatte das
Gewebe auf eine solche Weise gestreckt, daß es nur durch das Beschneiden eines bestimmten Fadens
entlastet werden konnte und dieser Faden war Niobe gewesen, bis Cedric ganz plötzlich mit ihr den
Platz getauscht hatte. Lachesis hatte ihn für die Beseitigung markieren, und Atropos hatte ihn
beschneiden müssen. Das war jedoch eine Art Unfallchirurgie gewesen. Noch immer mußten sie die
unvorhergesehene Entfernung, dieses Fadens ausgleichen, denn an dieser Stelle neigte das Gewebe
zur Verknotung, und so mußten sie mehrere weiter entfernte Fäden abschneiden und an anderer
Stelle neu hinzufügen. Nun begriff Niobe endlich, wie kompliziert doch die Aufgabe der
Schicksalsgöttin war. Sie war weder allmächtig noch launenhaft oder willkürlich; sie hatte
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