Inkasso Mosel
kräftige Frau um die Vierzig preschte durch die Schiebetür herein. Auf dem Schildchen am Revers ihres hellen Kittels stand ein Name, den Walde wegen der flotten Bewegungen nicht lesen konnte. Sie begrüßte ihn knapp, überflog den Kontrollstreifen am Gerät und wandte sich dann Doris zu: »Nach der Kurve der letzten Wehe hätte ich Sie eigentlich hören müssen.«
Sie untersuchte Doris behutsamer, als Walde es nach der hektischen Begrüßung erwartet hätte. Von draußen war Schmerzgeheul zu vernehmen.
»Andere Baustelle ruft.« Damit war die Hebamme so schnell verschwunden, wie sie gekommen war.
Sieben Stunden später, Mitternacht war längst vorbei, half Walde, Doris’ Bett über den Flur in den Kreißsaal zu schieben und sie dort auf das Geburtsbett zu hieven. Er war froh, endlich etwas tun zu können. Vorher hatte seine Aufgabe darin bestanden, Doris hilflos dabei zuzusehen, wie sie Qualen litt.
Er bekam einen Kittel verpasst und nahm eine Position am Kopfende ein, wo er wiederum nicht mehr tun konnte, als Doris’ Schultern zu streicheln, ihr gut zuzureden und den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Eine qualvolle Stunde später ging plötzlich alles sehr schnell. Die Herztöne des Kindes wurden unregelmäßig, und der Geburtshelfer alarmierte nebenan den OP. Das Kind sollte sofort per Kaiserschnitt geholt werden.
Walde saß auf dem ersten Stuhl der langen Schalensitzreihe im Flur zwischen OP und Geburtshilfe und starrte auf das dunkle Fenster gegenüber. Um ihn herum war es so still, als hielte die Welt für einen Moment den Atem an.
Nach der Hektik der letzten Stunde war der Wechsel in den einsamen Vorraum des OP so abrupt erfolgt, dass sein Körper noch immer unter Hochspannung stand und das Adrenalin durch die Adern jagte. Auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitschriften in Pappumschläge gehüllt. Walde stand auf und ging zum Fenster. So hatte sich vielleicht vor vierzig Jahren bereits sein Vater gefühlt-, so ohnmächtig dem Können anderer Leute und dem Schicksal ausgeliefert. Hatte das Kind, wie die Hebamme vermutete, die Nabelschnur um den Hals? War es aufgrund des Sauerstoffmangels behindert oder am Ende gar tot?
Walde bedauerte, dass er nicht rauchte. Wenn es eine Situation gab, dann war diese zum Rauchen wie geschaffen. Er hätte gern für Mutter und Kind gebetet, aber das hatte er schon lange nicht mehr getan. Gott anzuflehen schien ihm zu abstrakt. Einen Heiligen, der für Geburten zuständig war, kannte er nicht. Sollte er ein Gelübde ablegen? Wenn alles gut ginge, würde er nach Santiago de Compostella pilgern. Aber diese Wanderung konnte zum Vergnügen werden. Dann schon eher ein Jahr lang jeden Morgen vor Dienstbeginn für ,Die Tafel’ kostenloses Essen in den Märkten abholen. Das würde ihm garantiert keinen Spaß machen.
Der Schrei eines Neugeborenen! Die Tür des Operationssaales schwang auf und die Hebamme drückte ihm ein eingewickeltes Bündel in den Arm, aus dem ein winziger Kopf mit langen dunklen Haaren lugte.
Walde hatte noch nie in seinem Leben ein so inbrünstiges Danke gesagt wie in diesem Augenblick, als die Frau ihm das Baby überreichte und versicherte, dass Mutter und Kind wohlauf seien.
Im Kreißsaal nahm die Hebamme ihm seine Tochter für einen Moment wieder ab und forderte ihn auf, den Oberkörper frei zu machen. »Es ist gut für das Kind, wenn es gleich Hautkontakt hat. Bei der Mutter ist das im Moment schwer möglich, also soll es den Vater spüren.«
Walde setzte sich hin und zog sich Pullover und Hemd über den Kopf. Dann legte sie ihm das noch leicht verschmierte Kind auf den Bauch. Es schmiegte sich an ihn und lag ganz ruhig und mit geschlossenen Augen da. Die Hebamme breitete ein Tuch über den kleinen nackten Körper. Walde spürte den Atem des Kindes. Er betrachtete gerührt das kleine, entspannte Gesicht. Noch nie hatte er ein schöneres Baby gesehen.
Langsam wurde er ruhig und genoss die Berührung mit dem kleinen Lebewesen, das sich vor ein paar Minuten noch in einer warmen behüteten Blase aufgehalten hatte.
Viel zu schnell begann die Hebamme mit der Routine. Zwischendurch ging Walde in den Aufwachraum, wo er Doris kaum zur Geburt beglückwünschen und von seiner Begeisterung über das Kind berichten konnte, als sie ihn gleich wieder zurück zu ihrer gemeinsamen Tochter schickte. Im Kreißsaal durfte er das Neugeborene selbst ankleiden und musste auf die abgeklemmte Nabelschnur achten. Walde setzte ein stolzes Lächeln auf, als die Schwester
Weitere Kostenlose Bücher