Inkubus
sich ein weiteres Seil gespannt und den Zahnarzt entmannt. Nach weiteren drei Metern donnerte die Leiter mit den Überresten des Körpers auf den Bürgersteig. Keine Überraschungen. Pileggi hatte bei Beginn des Sturzes noch gelebt. Der Gerichtsmediziner hatte bei ihm typische Flecken um Herz und Lungen gefunden, die darauf hindeuteten, dass das Opfer vor seinem Tod an Atemnot gelitten hatte, wahrscheinlich wegen des Apfels in seinem Mund. Todesursache war allerdings das Abreißen des Kopfes. Der Penis war post mortem abgetrennt worden, aber hier handelte es sich nur um Bruchteile von Sekunden. Die Kraft, mit der der Körper auf dem Bürgersteig aufprallte, hatte etwa achtzig Newton pro Quadratzentimeter betragen, die Geschwindigkeit lag dabei zwischen fünfzehn und zwanzig Meter pro Sekunde. Es war denkbar, dass das Opfer während des freien Falls das Bewusstsein verloren hatte. Wenn nicht, hätte sein Gehirn einen kurzen furchtbaren Moment lang realisieren können, was mit ihm geschah. Was bei Lehrer Garcovich der Fall gewesen war, wie die Videoaufnahmen bewiesen.
Wie die Opfer einer Guillotine, dachte Amaldi.
Die einzigen wichtigen Informationen betrafen einen Splitter Tannenholz zwischen den hinteren Backenzähnen der linken Gesichtshälfte. Er entsprach dem, den man in Garcovichs Mund gefunden hatte. Und die Löcher in den Ohrmuscheln waren perfekt rund, was Amaldi schon in der Nacht am Tatort aufgefallen war. Der Gerichtsarzt hatte vergleichende Untersuchungen angestellt: Durchmesser und Art der Verletzung ähnelten den Löchern von Werkzeugen, mit denen Schuhmacher Löcher in Ledergürtel stanzten. Das Opfer wies dieselben Spuren an den Schneidezähnen auf, die man bei Garcovich gefunden hatte. Und im Mund die gleichen Überreste von zwei unterschiedlichen Äpfeln, bevor man den hineingestopft hatte, mit dem sie ihn gefunden hatten. In der Kehle und dem ersten Abschnitt der Luftröhre waren auch Baumwollfasern gefunden worden. Sie waren mit Urin getränkt. Nach einer ersten Untersuchung schien es sich um den des Opfers zu handeln, auf das endgültige Ergebnis würde man eine Woche warten müssen.
Natursekt ? Erotische Spielchen ?, notierte sich Amaldi.
Dann konzentrierte er sich wieder auf den Autopsiebericht.
Am hinteren Halsansatz, knapp unterhalb des Nackens war eine große blutunterlaufene Stelle zu sehen. Der Pathologe vermutete, dass sie durch einen oder mehrere Schläge verursacht worden war, mit denen das Opfer betäubt werden sollte. Zwischen den Pobacken und auf der Rückseite der Oberschenkel des Zahnarztes hatte man die gleichen Strohfasern gefunden wie an Garcovichs Leiche. Also war auch Giaime Pileggi an einen Stuhl mit einer Sitzfläche aus geflochtenem Stroh gefesselt worden, und zwar nackt. Wie Garcovich wies er keine Anzeichen von Unterkühlung oder beginnenden Erfrierungen auf. Sein leicht geschwächter körperlicher Zustand war allein auf die ausschließlich flüssige Nahrung zurückzuführen, Apfelsaft, den er zum letzten Mal ungefähr zwei Stunden vor seinem Tod zu sich genommen hatte. Seine linke Augenbraue war aufgeplatzt, aber jemand hatte die Wunde versorgt. Der Gerichtsmediziner hatte keine Vermutung darüber geäußert, wie diese Wunde entstanden sein konnte. Er beschrieb die Ursache allgemein mit »Handgemenge«.
Schließlich der Biss an der Brustwarze. Der Abdruck ließ keine Zweifel offen. Statt der üblichen vier zweiten Schneidezähne waren da vier Eckzähne neben den normalen, also insgesamt acht. Obwohl auch das noch durch einen empirischen Vergleich überprüft werden musste, war dies der überzeugendste Beweis dafür, dass es sich bei dem Täter um Primo Ramondi handelte. Es konnte schließlich nicht viele Mörder geben, die frei herumliefen und acht Eckzähne hatten. Amaldi zog so etwas nicht einmal in Betracht, doch er hatte ein Problem damit. Zwar würde niemand einem Polizisten glauben, der gerade aus einem Sanatorium für psychisch Kranke entlassen worden war, aber er wusste, dass Primo Ramondi nicht ihr Mann war.
Trotzdem war Primo Ramondi der Schlüssel, oder einer der Schlüssel zur Lösung des Falls. Doch in seiner derzeitigen Verfassung konnte er ihnen kaum helfen. Primo Ramondi würde ein Rätsel bleiben.
Eine Information aus dem Autopsiebericht gab Amaldi jedoch zu denken, und das war der Zustand des Bisses, der dem Opfer wahrscheinlich zwei Tage vor seinem Tod zugefügt worden war. Laut Bericht hatte jemand die Wunde mit »geradezu manischer Sorgfalt«
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